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Akademikerfanclub 1899 Hoffenheim Rhein-Neckar Heidelberg 2007 e. V.

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1899 Hoffenheim vs. Hertha BSC

„Aha-“ statt „Hurra-Fußball“

Die Entdeckung des Stoizismus als Spielphilosophie

„Aus Trainersicht“, so sprach der Trainer Julian Nagelsmann auf der Pressekonferenz nach dem Spiel, „war es das beste Spiel, das wir bisher abgeliefert haben.“

Aus Datensicht wohl auch. Denn sofern man den Zahlen, die da nach dem Spiel in der Rubrik „Statistik“ zu lesen sind, glauben darf, gelang unserer TSG ein wirklich sehr guter Wert gerade in dem Punkt, in dem wir schon die ganze Saison über alles andere als Topwerte erreicht man: die Passquote.

86%!

Das ist schon ein sehr guter Wert, zumal dem die zu Beginn der Saison übliche Variante Baumann – Süle – Baumann bei dem Spiel fehlte.

86%!!!

Und das bei, lt. den Spieldaten auf kicker.de, 524 Pässen. Das heißt: 449 Pässe kamen an – und damit ganze drei mehr als die Gäste im gesamten Spiel produzierten!!!

Aus Fansicht bedeutete das aber auch, dass man viel, viel, sehr viel Zutrauen in die Mannschaft brauchte, die ja in den letzten beiden Spielen nicht gerade mit Konzeptfußball begeisterte.

Diesmal hatte sie eines, was vielleicht auch in den vorangegangenen Spielen der Fall gewesen sein mag, aber diesmal bekam sie es auch sensationell gut umgesetzt. Und das auf eine Art und Weise, wie man sie von unserer Mannschaft nicht kannte. Das war mehr Aha- als Hurra-Fußball – und erfolgreich.

Dabei war die Passquote natürlich ein wesentlicher Faktor. Und das Zurennen der Räume, denn der Hertha gelang es nur zwei Mal, ihre stärkste Waffe einzusetzen: ein flaches Zuspiel in die Spitze, aber Baumann machte beide Riesenchancen zu Beginn und am Ende der ersten Halbzeit durch großartige Reaktionen zunichte.

Gleichzeitig ließen aber auch die Gäste ihrerseits wenig zu. Auch sie hielten ihre Positionen, verhinderten durch enges Zustellen ein schnelles Spiel unsererseits, so dass sich sehr früh ein Spiel entwickelte, bei dem klar wurde, dass es die Fehler sein werden, die das Spiel entscheiden – und die einerseits dem, womit Luther bei seiner Bibelübersetzung aus dem Griechischen sowohl „hypumonä“ (wörtlich: „Darunterbleibe“) als auch „Makrothymia“ (wortlich: Langmut) übersetzte, andererseits das, was der menschliche Körper im Rahmen seiner Salivation produziert – oder wie es der Volksmund simpel und pointiert beschreibt:

Geduld und Spucke.

Der Duden definiert Geduld als „Ausdauer im ruhigen, beherrschten, nachsichtigen Ertragen oder Abwarten von etwas“. Geduld ist ein Tugend; und das wiederum ist Wort, dessen ursprüngliche Bedeutung die Tauglichkeit, Tüchtigkeit, Vorzüglichkeit einer Person, eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung einer Person beschreibt.

In einer der wirkungsmächtigsten (heute würde man wohl sagen: nachhaltigsten) Philosophien des Abendlandes gilt sie, die Tugend, als einzige Quelle der Glückseligkeit des Weisen, der der Natur gemäß lebt, die Affekte beherrscht und Leiden erträgt: dem Stoizismus.

Nun gelten Fußballer, Trainer und Fans nicht unbedingt zu den Menschen, zu deren Beschreibung einem spontan „stoisch“ einfällt – eher „cholerisch“ –, was auch daran liegt, dass einem bei einem Stoiker sehr schnell ein Mensch in den Sinn kommt, der sich passiv verhält, der alles hinnimmt, was ihm von außen widerfährt, was sich in Ausdrücken wie „stoisch ertragen“, „stoische Ruhe“ etc. widerspiegelt.

Und auch in seiner aktiven Bedeutung ist „stoisch“ nicht gerade positiv besetzt, wohnt dem dann ein nicht geringes Maß an Sturheit und Unbelehrsamkeit inne. Beides ist falsch.

Für den Stoiker als Individuum gilt es, seinen Platz in der {ganzheitlichen} Ordnung zu erkennen und auszufüllen, indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Seelenruhe zur Weisheit gelangt.

Die Lehre der Stoa („Stoizismus“) geht zurück auf Zenon von Kithion. Von ihm stammt (angeblich) der schöne Satz, der hier nichts mit dem Spiel zu tun hat, der aber einfach so schön ist, dass wir ihn nicht unerwähnt lassen wollen:

Der Mensch hat zwei Ohren und eine Zunge, damit er doppelt so viel hören kann, wie er spricht.

Vom Namen her dürften Marc Aurel und Seneca die berühmtesten Stoiker sein. Die kommen gegen Ende zu Wort. Erst lassen wir Epiktet sprechen, da von ihm so viele Zitate überliefert sind, die so gut zum gestrigen Spiel sowie der TSG überhaupt passen, unter anderem …

Ruin und Wiederaufbau liegen dicht beieinander.

Versuche dich um Himmels Willen an kleinen Dingen; erst danach mache mit größeren weiter.

Wir sollten alles gleichermaßen vorsichtig wie auch zuversichtlich angehen.

Dies schienen unsere Spieler gestern völlig verinnerlicht zu haben, was sich insbesondere nach dem Rückstand zeigte. Natürlich war der vermeidbar, aber er war nun einmal gefallen und somit nicht mehr zu ändern, also war es wichtig, dem keine größere Bedeutung beizumessen, als die, die er hatte, und einfach zurückzukehren zum Wesentlichen (hier: Anstoßkreis) und sich selbst auf das zu besinnen, was einem selbst möglich ist (hier: Ausgleich).

Es war so beeindruckend wie vor wenigen Wochen noch unvorstellbar, mit welcher Gelassenheit unsere Mannschaft dieses 0:1 wegsteckte und sich daran machte, den Ist-Zustand zu ändern, was ja auch keine zehn Minuten später der Fall war – und das ebenfalls und bei unserer Mannschaft besonders überraschend durch eine Standardsituation – und noch überraschender – durch Schär.

(Das war für den Stadionsprecher sogar derart überraschend, dass er zuerst Süle als Torschützen anpries.), der den schön gezirkelt getretenen Freistoß von Amiri wuchtig per Kopf verwandelte.

Dazwischen gab es sehr viel Ballbesitzspiel unserer Mannschaft, die kontrolliert und geduldig harrte und wartete auf die Chance, den Ball flach nach vorne zu kombinieren, was in schöner Regelmäßigkeit (wenngleich zeitlich größeren Abständen) geschah, doch auch wenn dadurch immer wieder aussichtsreiche Situationen geschaffen werden konnten, Zählbares ergab sich daraus nicht.

Doch die Mannschaft ließ sich davon nicht beirren und hielt an der Idee stoisch fest. Und in der zweiten Halbzeit wurden dann die daraus resultierenden Chancen besser und zahlreicher. Erfolgreicher nicht.

Und spätestens als nur noch wenige Minuten zu spielen waren – und auch die Ergebnisse von den anderen Paarungen bekannt wurden, machte sich zumindest auf den Rängen so langsam eine zunehmende Nervosität breit. Auf dem Rasen nicht. Da dominierte die TSG und ihre Stoik – und beides wurde belohnt, und wiederum war es eine Standardsituation, diesmal ein von Amiri getretener Eckball, den Süle (das sah schon sehr einstudiert aus) auf den langen Pfosten weiterleitete, wo Uth, der zuvor viel ackerte und rackerte, auf Höhe der Grasnarbe den Ball per Kopf über die Linie bugsierte.

2:1. Spiel gedreht – und damit in der Tabelle nicht nur den Schwaben den Platz Relegationsrand überlassen, sondern sich auch gegenüber der Vorwoche platzierungstechnisch verbessert.

Punktemäßig sind es immer noch nur noch drei Punkte vor Platz 16, aber es ist halt schon ein gutes Gefühl, die TSG nicht mehr direkt in oder an der Abstiegszone zu sehen. Aber, auch wenn es da, wo wir jetzt stehen, nicht mehr so finster wie da ist, wo wir noch vor wenigen Wochen standen: Es ist alles sehr eng beieinander da unten im Tabellenkeller.

Es gibt also keinen Grund, sich sicher zu fühlen. Aber auch keinen Grund, Angst zu haben, weil Julian Nagelsmann seit Amtsantritt im Grunde ja stoisch nichts anderes mit der Mannschaft tut, als das, was Seneca riet:

Willst du, dass einer in der Gefahr nicht zittert, dann trainiere ihn vor der Gefahr.

Und auch für sich selbst, handelt er sehr stoisch im Sinne Marc Aurels:

Der Mensch, der eine gute Tat vollbracht hat, soll nicht viel Aufhebens davon machen, sondern zu einer neuen schreiten.

Genau das tut er – und genau darauf freuen wir uns. Stoisch positiv.

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