1899 Hoffenheim vs. Bayern München
Aristoteles in Action
Simplizität schafft Realität
Jetzt mal ganz ehrlich: Du doch auch nicht!
Pokalspiel souverän, aber zäh, Heimspiel gegen Liverpool großartig, aber verloren, der Saisonauftakt gegen Bremen engagiert und letztlich etwas glücklich, an der Anfield Road eine bittere Lehrstunde erhalten, gegen Leverkusen mit enormem Glück nicht untergegangen und jetzt ohne Süle, Rudy, Toljan, die ja nicht mehr für uns auflaufen werden, sowie ohne Vogt, Wagner und Gnabry, die allesamt nicht auflaufen konnten, mit den in den ersten Spielen alles andere als überzeugenden Nordtveit und Bicakcic in der Abwehr gegen die Bayern, gegen die wir beim Telekom-Cup ja auch nur mit viel Fortune nicht unter die Räder kamen, gewinnen? Und das nicht einmal unverdient? Ohne Gegentor? Mit zwei null? Nein, jetzt mal ganz ehrlich:
Das hast auch du beim besten Willen nicht geglaubt!
Und doch kam es so, weil es Julian Nagelsmann wieder einmal gelungen ist, die Simplizität sowie das Wesen des Fußballspiels auf den Platz zu bringen. Es ist ein Kampf- und Laufspiel – und vor allem ist es ein Mannschaftssport.
Gut, wem das jetzt zu simpel war – für den können wir es auch aristotelisch kommunizieren, indem wir aus seiner Metaphysik VII zitieren:
„Das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet – nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe –, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile.“
Die Richtigkeit dieses Satzes, den du in seiner Kurzform kennst („Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“), zeigte sich nicht, sie offenbarte sich – zunehmend mit zunehmender Spieldauer, weil Nordtveit nur eine Scheißszene hatte, die dieses Mal folgenlos blieb.
Als Müllers Flanke sich in unseren Sechzehner senkte, hatte unser Norweger den Ball zwar im Auge, aber seinen Gegenspieler Lewandowski im Rücken und dort auch verloren. Seltsam anmutend lief er rückwärts, hin- und hergerissen zwischen Ball und Gegner, wodurch er weder den einen noch den anderen unter Kontrolle bekam, dafür Letzterer Ersteren, aber zum Glück so doof ans Schienbein, dass der Ball übers Tor ging.
Danach ging für die Bayern nichts mehr. Ja, sie mochten 110% Ballbesitz gehabt haben, aber a) hatten sie den nicht, b) waren die rund 70% absolut wirkungslos, denn bis auf diese eine Szene entwickelten sie letztlich keine Gefahr, denn unsere Abwehr hatte es wunderbar verstanden, die Bayern aus dem Strafraum fernzuhalten. Und wenn dann mal ein Ball in den Strafraum kam, dann nur als langer Ball, den man in so einem Fall ja gerne Flanke nennt, um dem Ganzen mehr Dramatik zu geben, aber im Grunde war es nur eine vertikale Variante eines hoch geschlagenen Balles über 25 – 40 Meter. Zwar in Torraumnähe, aber halt mit ungewissem Abnehmer, wobei mit jeder Minute die Gewissheit zunahm, dass die Bayern-Stürmer gegen unsere Abwehrrecken kein Kopfballduell gewinnen würden.
Nur ein einziger (Kopf-)Ball kam in der ersten Halbzeit auf Baumanns Tor, Fernschüsse gar nicht, denn wir können nicht nur Dreier-, Vierer-, Fünferkette, wir können auch Achterblock. Ausnahme war ein Freistoß Lewandowskis, der zwar gefährlich war, aber auch nicht aufs Tor kam.
Da führten wir bereits 1:0. Hatten wir in den Spielen zuvor das ein oder andere Mal über unsere mangelnde Chancenverwertung geklagt, konnte davon diesmal nicht die Rede sein, denn der Schuss Uths war unser erster aufs Bayerntor – und die Vorlage war, was uns besonders freut, ein Einwurf.
Bekanntermaßen sehen wir darin ja eine der meist unterschätzten Standardsituationen. Er rangiert weit hinter Strafstößen (klar), aber auch hinter Freistößen und selbst Ecken, was wahrlich befremdlich wirkt, denn gerade Letztere leben mehr von ihrem Image aus grauer Vorzeit. Schon lange sind Eckbälle keine Torgaranten mehr. Auch bei Freistößen muss sehr viel zusammenkommen, dass von ihnen Torgefahr ausgeht. Da muss die Distanz zum Tor stimmen, der Winkel und nicht zuletzt das Geschick des Kickers. Einwürfe hingegen … haben den Riesenvorteil, dass man sie extrem variabel einsetzen kann (wie zuletzt bei der EM durch die Isländer präsentiert) – und, dass sie „abseitsbefreit“ sind.
Dabei war dieser Assist gar kein besonderer Einwurf. Er war weder besonders weit noch besonders hart geworfen, nur sehr schnell ausgeführt und genial platziert – so schnell und so genial, dass es wahrscheinlich gut und gerne 30 der 30.150 Zuschauer in der erneut ausverkaufen RHEINECKARENA so ging wie Hummels und der gesamten Bayern-Abwehr: Sie haben es mitbekommen, als es passiert war.
Dabei warf der in den Nachberichterstattungen oft gelobte Balljunge den Ball ja gar nicht mal sooo schnell Kramaric zu, sondern er schuggte ihn in seine Hände, so dass sich unser Kroate nur umdrehen, die Hände hinter den Kopf und den Ball durch eine fließende Bewegung über den Kopf wieder ins Spiel bringen musste. Das tat er, direkt in den Lauf, nein: Sprint von Uth, der ihn sich durch die erste Berührung nur vor- und zurechtlegte und dann kurz und trocken ins kurze Eck abzog.
Das aber sahen die allerallerallerallerallerallermeisten Zuschauer erst Minuten später, als der Jubel vergangen und auch die Furcht vor dem Videoschiedsrichter vergangen war – der Modernität unserer Anzeigetafel sei Dank.
Dort bekam man aber auch nicht mit, warum sich die Bayern aufregten. Da Hummels den Ball aus dem Aus wieder ins Spielfeld (in den Bereich Baumann) drosch, waren sie der Meinung, es hätte abgepfiffen werden müssen, da ein zweiter Ball im Spiel war.
In der Nachspiel-Pressekonferenz bewies Julian Nagelsmann einmal mehr, dass sein schlechtestes Prüfungsfach „Regelkunde“ war, denn auch er war der fälschlichen Meinung, dass das Spiel hätte unterbrochen werden müssen, denn Regel 2 der FIFA-Statuten („Der Ball“) besagt:
„Gelangt während des Spiels ein zweiter Ball aufs Spielfeld, hat der Schiedsrichter das Spiel nur zu unterbrechen, falls der Ball das Spiel beeinträchtigt.“
Der Schiedsrichter kannte sie. Das und nur das – und der Treffer – zählt/e.
1:0. Aus dem sprichwörtlichen Nichts. Egal. Tor. Für uns. Gegen die Bayern. Fast zur gleichen Zeit wie bei unserem ersten Sieg gegen den Deutschen Rekordmeister und dessen letzter Niederlage in der Bundesliga. Damals war es die 21., diesmal die 27. Minute.
Kurzzeitig hatte man befürchtet, dass die Bayern nun noch einen Gang höher schalten würden, aber statt dessen stockte deren Motor auf einmal. Doch mit jeder Minute nach dem Führungstreffer stieg die Zuversicht auf Platz und Rängen, denn nicht zuletzt der Fernschuss Zubers machte deutlich, dass wir dem zweiten Treffer plötzlich näher waren als die Gäste dem Ausgleich.
Und als der kurz nach der Halbzeit fiel, stand es nicht nur folgerichtig 2:0, sondern auch das Stadion kopf:
Nie führten wir gegen die Bayern mit zwei Toren Unterschied und nie zuvor haben wir einen Treffer so geil herausgespielt wie diesen – ups, falsch: Der Führungstreffer Demirbays beim Hinspiel in der letzten Saison in München war noch besser herausgespielt. Nur hat es damals nicht bis zum Schluss zum Sieg gereicht, auch wenn es den Bayern in jenem Spiel nicht gelang, gegen uns ein Tor zu erzielen – so wie diesmal, was heißt:
Seit drei Spielen schossen die Bayern gegen uns kein Tor! 🙂
Hatte man eventuell bis dahin noch den Eindruck, dass die Bayern darauf vertrauten, mit all ihrer Erfahrung und individuellen Klasse doch noch Baumann würden überwinden können, irrte: Jetzt machten sie ernst! Rudy, Coman, Müller mussten das Feld für Robben, Ribéry und James verlassen. Nur: Uns machte das nichts, denn in der Zwischenzeit war unsere Mannschaft so perfekt auf das Spiel der Bayern eingestellt, dass sie wahrscheinlich noch ein halbes Jahr hätten weiterspielen können, ohne dass etwas Zählbares für sie herausgesprungen wäre.
So aber sprangen wir uns nach fast 100 Minuten Spielzeit in die Arme. Unser Team hat es wieder geschafft. Und das nach einem nicht so super Start in die neue Saison:
Pokalspiel souverän, aber zäh, Heimspiel gegen Liverpool großartig, aber verloren, der Saisonauftakt gegen Bremen engagiert und letztlich etwas glücklich, an der Anfield Road eine bittere Lehrstunde erhalten, gegen Leverkusen mit enormem Glück nicht untergegangen und jetzt gegen die Bayern … gewonnen!
Nicht unverdient.
Nicht zufällig.
Aber halt auch nicht erwartbar.
Alles gute Gründe, dass wir von den Nagelsmännern in dieser Saison trotz Mehrfachbelastung wieder sehr viel erwarten können und dürfen.
Wir glauben daran. Und freuen uns drauf – sowie jetzt auf das erste Spiel in der Europa League am Donnerstag, 19.00 Uhr gegen Braga. Und da es nicht im Free-TV kommt, kommst du am besten ins Stadion, um die Helden von HOFFE LIVE zu erleben, sprich: Aristoteles in Action! 🙂
P. S.: (von eben jenem)
Um Kritik zu vermeiden,
sage nichts,
mache nichts,
sei nichts!
Submit a Comment