VfB Stuttgart vs. 1899 Hoffenheim
Der Triumph des Tremors
Heißeskälte zum Ende der Sommerzeit
Es gibt so viel, was wir nicht wissen. Warum der Mensch schläft, zum Beispiel, ist nicht 100% klar. Natürlich gibt es dazu viele Theorien und Wahrscheinlichkeiten, aber mit Sicherheit weiß es niemand genau zu sagen.
Es würde die Trainingsarbeit der TSG enorm optimieren, denn immer und immer wieder gibt es schlafmützige Aussetzer in unserer Defensive. Zum Glück hatte Oli Baumann gestern einen enorm ausgeschlafenen Tag, so dass Grillitschs Narkolepsieanfall in der 6. Minute nicht zum Ausgleich führte.
Natürlich gibt es auch keine ursächliche Erklärung für diese neurologische Erkrankung. Alles, was man weiß, ist, bei den Menschen, die unter Narkolepsie leiden, die Schlaf-Wach-Regulierung im Gehirn, genauer dem Zwischenhirn (Hypothalamus) dauerhaft gestört ist. Dort werden schlicht zu wenig Schlafhormone produziert, insbesondere Hypocretin.
Natürlich hast du, geneigte/r Leser/in, auch schon vom „Schlafhormon“ Melatonin gehört, aber das gehört genau genommen nicht zu den Schlafhormonen. Dieses Hormon wird während der Dunkelheit ausgeschüttet, aber kann allein deswegen kein Schlafhormon sein, weil es eben auch bei nachtaktiven Tieren ausgeschüttet wird. Allerdings bestehen physiologische Zusammenhänge zwischen Melatonin-Ausschüttung und Schlaf, aber wie genau? Keiner weiß es –womöglich über ein Absinken der Körperkerntemperatur.
Dabei war dem TSG-Fan an sich schon warm auf Haut, Haupt und ums Herz, der unsere Torheit hat sich wieder einmal in Bestform – und sehr aufgeweckt – gezeigt. Beim ersten Konter setzte er sich perfekt in Szene, weil gleich gegen mehrere Abwehrspieler der Hausherren durch. Zwar konnte der Keeper der Gastgeber den Ball noch abwehren, aber Prömel lief als Einziger mit durch und so dem abgewehrten Ball entgegen und markierte mit einem der wohl längsten Abstauber der Fußballgeschichte die erneut frühe Führung der TSG.
Zu dem Zeitpunkt, rund 12 Stunden vor der Rückstellung der Zeiger zeigte sich die TSG geradezu sommerfrisch, doch schon zwei Minuten später kam der oben erwähnte und völlig unerklärliche Wintersekundenchlaf bei Grillitsch. (Ja, auch der Österreicher ist nur ein Säugetier, aber er hat viel zu wenig Fett, um es dem Siebenschläfer, dem Braunbrustigel, der Haselmaus, dem Murmeltier oder sonst irgendeinem anderen Tier gleichzutun und zu hibernieren, d. h. Winterschlaf zu halten.)
Ganz anders Beier. Er war nicht zu halten. Wieder startete er ein furioses Solo, das nur mit einer Attacke à la Tyson Fury gestoppt werden konnte. Der Schlag des Gegners war zwar nicht beabsichtigt und Beier ging auch nicht K.O., doch zu Boden, der Schiri an den Bildschirm und dann zum Punkt.
Weghorst platzierte den Ball direkt am Innenpfosten. Was für ein Spiel. Was für ein heißer Start. Die TSG agierte maximal cool. Und vielleicht war es diese Hitze-Diskrepanz, die zu dem führte, was im Laufe des Spiels mehr und mehr zunahm: das Zittern, griech: der Tremor.
Nun gilt es zwei Arten des Tremors zu unterscheiden: den pathologischen Tremor und den physiologischen Tremor:
Der physiologische Tremor ist in seiner Natur hochfrequent und mit niedriger Amplitude. Die Bewegungen des Zitterns erzeugen bei endothermen Tieren (also auch beim Menschen) überlebensnotwendige Wärme. Sinkt z. B. die Körpertemperatur auf weniger als 33 °C, besteht die Gefahr einer Unterkühlung (Hypothermie). Im Allgemeinen beginnt bei 35 °C Körpertemperatur das unwillkürliche Zittern zur Erhöhung der Körperwärme. Aber an der Kälte lag es diesmal nicht. (Ganz im Gegensatz zur Partie an selber Stelle vor vielen Jahren, als es rund -20 °C Außentemperatur hatte).
Und unsere Spieler bewegten sich auch viel und reichlich an diesem herrlichen Spätsommertag. Sie waren also bewegungstechnisch schon sehr hochfrequent und so niedrig waren die Schwingungen (Amplituden) auch nicht, aber sie beeindruckten den Gegner nicht so, wie man sich das gewünscht hätte.
Im Gegenteil: Es schien ihn eher zu befeuern, dass wir so kaltschnäuzig vor ihrem Tor auftauchten, so dass es in unserem Sechzehner immer heißer herging. Zuletzt überhitzte sogar Baumann und fällte erst eine falsche Entscheidung und dann den Gegner. Erneut Elfer und erneut Pfosten, aber nicht innen und der Ball blieb draußen. Was für eine Parade, aber auch irgendwie passend, fuhr er doch zuvor dem Gegner in die selbige.
Ja, so ein Halbzeitergebnis beim zuhause noch ungeschlagenen VfB, das tat schon gut, aber mehr Entlastung nach vorne auch not, wenn seine Serie reißen und unsere (auswärts noch ohne Punktverlust) weiterhin Bestand haben sollte.
Doch in weiten Teilen bestand unsere Präsenz auf dem Platz in der Präsenz um den eigenen Sechzehner. Selbst Siebtklässler setzen in der zweiten Woche im Französischunterricht mehr Akzente als unsere Jungs in der zweiten Halbzeit nach vorne.
Doch es reichte einer – und das war in der Tat ein „Akut“ – oder wie man ihn in der Schule nennt: accent aigu.
Der Akut ist ein diakritisches (sprich: Akzent-)Zeichen, das aus einem kurzen Strich von links unten nach rechts oben besteht – und was anderes war der Schuss von Robert Skov?
Ein Segen, denn so heißkalt unsere Offensive agierte, so sehr ließ unsere Defensive a) frösterln und b) dann doch ein Gegentor zu.
Mit diesem Anschlusstreffer hatten die Hausherren natürlich noch mehr Drang in ihren Offensivaktionen, doch just dann gelang uns mal wieder ein Konter und Skov wieder ein Sonntagsschuss am Samstagnachmittag. Auf der Ergebnistafel war der alte Abstand wiederhergestellt, aber auf dem Platz gelang es uns nicht, den Abstand zu unserem Tor aus der ersten Halbzeit wieder herzustellen.
Die Gastgeber machten weiter Druck, noch ein Tor und so langsam wurde der Tremor pathologisch. Der TSG-Fan zeigte mit abnehmender Spieldauer zunehmend nahezu alle Tremorarten:
- Orthostatischer Tremor: Tritt beim aufrechten Stehen auf; Zittern der Beine. Zittern bei leichter Ausprägung nicht wahrnehmbar.
- Stimmtremor (vokaler oder laryngealer Tremor): Oszillierender Stimmtremor der beim Sprechen hörbar wird.
- Orolingualer Tremor: Tremor des Kinnes, Zunge, Pharynxes und (Teile) des Gesichtes.
- Palataler Tremor (Gaumensegeltremor, Gaumensegelmyoklonus, Gaumensegelnystagmus): Rhythmische, unwillkürliche Bewegung des Gaumensegels.
- Kinntremor: Zittern des Kinnes (und der Unterlippe).
Wir zitterten, wir bibberten. Noch einige Riesentaten von Baumann und plötzlich gab es vom Schiedsrichter den Schlusspfiff, was für uns gleichzeitig der Anpfiff für weitere Tremorschübe war. Ein Aktionstremor jagte den anderen:
- kinetischer Tremor: Der Bewegungstremor tritt auf, wenn der Patient die betroffenen Extremitäten bewegt, jedoch ohne zielgerichtete, präzise Intention, beispielsweise indem er die Hände horizontal vor sich herbewegt.
- Intentionstremor: Er tritt mit einer zielgerichteten Bewegung auf, beispielsweise dem Hinführen eines Fingers an einen bestimmten Punkt. Mit zunehmender Näherung an das Ziel verstärkt sich der Intentionstremor.
- Isometrischer Tremor: Er tritt bei voluntärer Muskelkontraktion ohne Bewegungseffekt auf (wie z. B. beim festen Zuschließen der Faust oder dem Drücken gegen die Wand).
Allenthalben ward vom Zittersieg die Rede. Das mag stimmen, klingt uns aber nicht groß genug. Daher sehen wir den Sieg als einen Triumph des Tremors, denn bei uns stimmten Muskelaktivität (123,9 Kilometer Laufleistung (7 km als der Gegner)) und -intensität (53% gewonnen Zweikämpfe). Nur das mit den Amplituden, also den Schwingungen, das hat noch Potenzial nach oben. 66% Passquote, 0 Ecken und 0 % angekommene Flanken sind schon sehr maue Werte. Andererseits: 18 Punkte nach 9 Spielen, das hatten wir nur einmal besser: in unserer Aufstiegssaison 08/09. Da standen wir damit damals sogar auf Platz 1 – und das vor unserem Gegner am nächsten Wochenende, dem aktuellen Tabellenführer.
Hach, das sieht doch fast schon nach guter, alter Zeit aus – wie auch, dass wir erneut in der 2. Runde des DFB-Pokals auswärts bei einem Bundesligisten antreten müssen. Bisher sind wir da dann immer ausgeschieden. Aber jede Serie reißt ja mal … 🙂
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