Image Image Image Image Image Image Image Image Image Image

Akademikerfanclub 1899 Hoffenheim Rhein-Neckar Heidelberg 2007 e. V.

Scroll to top

Top

No Comments

1899 Hoffenheim vs. Hertha BSC Berlin

Superkalifragilistisch expialidorisch

Neue Wörter für ein altes Leid

Bildung blockiert.

Da hatten wir die Möglichkeit zum Tabellenplatztausch. Da war die Möglichkeit da, sich im oberen Tabellendrittel zu behaupten. Aber dann kam alles ganz anders – und einem ein Haufen dummes Zeug in den Sinn: das Datum, Heimstadt des Gegners, das Ergebnis.

9. November, Berlin. Da lässt es sich nicht so einfach drauflos fabulieren. Der interne Zensor wacht und mahnt, das alles zu ignorieren, denn obwohl mit Datum und Stadt doch auch Positives verbunden werden kann wie die Ausrufung der Republik 1919 sowie der Mauerfall 1989 ist das Datum mit einem, wenn nicht dem Schreckentag der Menschheitsgeschichte verbunden, an dem der Holocaust, die millionenfache Ermordung der Juden und weiterer den Nazis unliebsamen Ethnien und (ganz verallgemeinernd gesprochen) Charakteren seinen Anfang nahm.

Was die Ignoranz des Datums bei aller „Gnade der späten Geburt“ noch schwieriger macht: Die sogenannte „Reichskristallnacht“ jährte sich Samstag auch noch zum 75. Mal.

Nicht jedes Jubiläum bietet Anlass zur Freude, obwohl das Wort selbst dies suggeriert. Es ist ein schönes Wort und man ist geneigt anzunehmen, dass auch dies Wort ein Werk ist, welches Goebbels’ so genialen wie kranken Gehirn entsprang, um die damit verbundenen Gräueltaten zu kaschieren. Dies scheint jedoch nicht zu stimmen. Vielmehr war es die berühmt-berüchtigte Berliner Schnauze, die diesen Begriff schuf – und selbst das nicht in böser Absicht.

Vielmehr war „Kristallnacht“ eine ironisch gemeinte Beschreibung für die Folgen des Sturm der Nazis auf jüdische Einrichtungen, da die vielen Scherben, die nach der Zerstörung jüdischer Geschäfte und Synagogen auf der Straße lagen, das Lampen- und Feuerlicht wie Kristalle haben glitzern lassen. Um dann dem Ganzen noch in puncto Ironie eines obendrauf zu setzen, setzte man in satirischer Intention das ohnehin zu der Zeit übliche Vorwort „Reichs-“ davor.

Wenn man das weiß, ist man eigentlich verwundert, dass dieser Begriff immer noch so geläufig ist, denn eines war das Ereignis definitiv nicht: lustig.

Vielleicht , weil es schlicht an Alternativen fehlt: „Rath-Aktion“, „Grünspan-Affäre“ oder „Mordwoche“, wie die Opfer diese Aktion nannten, oder auch „Judennacht“ und „Reichstrümmertag“, wie man den 9. November 1938 in der Nachkriegszeit im Westen nannte, sind als Begrifflichkeiten unbekannt. (Quelle)

Natürlich gibt es den synonym gebrauchten Terminus der „Reichspogromnacht“, der ebenfalls recht früh aufkam und der sich immerhin bis heute hält, aber sich dennoch nicht wirklich hat durchsetzen können. Vielleicht weil man als Muttersprachler immer das Gefühl hat, da fehlt ein “r“, aber selbst wenn es zu „Reichsprogromnacht“ bei Google über 40.000 Treffer in 0,03 Sekunden gibt (auch in Zeitungen), es heißt „Pogrom“ (russ. für „Verwüstung“)

Wie gesagt: Bildung blockiert.

Ach hätte unsere Mannschaft doch nur ein Zehntausendstel dieser Treffer in einem 18.000-mal so großen Zeitraum erzielt, alles wäre gut. Hat sie aber nicht. Nun ist nicht alles schlecht, aber das obere Tabellendrittel weit weg.

Wieder Spektakel. Aber wieder kein Heimsieg. Diesmal hat nicht der Gegner das Spiel gewonnen. Diesmal haben wir es verloren. Nicht allein wegen einer erneut hochfragwürdigen Schiedsrichterentscheidung gegen uns. Vielmehr weil … ja, warum eigentlich?

Nun, an erster Stelle steht hierbei natürlich die Simplizität der Faktizität: weil der Gegner einen Treffer mehr erzielte als wir. Doch der Satisfaktionsgrad einer solchen Erklärung tendiert natürlich bei aller Unumstößlichkeit gen null.

Man muss sich da schon weiterer Fakten bemühen. Im Fußball tut man dies für gewöhnlich durch die Isolation der Ergebnisdeterminanten. Doch bringt dies einem nach diesem Spiel wirklich weiter?
Dem 0:1 der Gäste ging unmittelbar ein Beinschuss voraus und dem 0:2 eine exklusive Situationsinterpretation des Schiedsrichters. Beides lässt sich nicht verhindern. Also ist die Fokussierung hierauf zumindest in diesem Fall zur Erkenntnisgewinnung ebenfalls maximal gering.

Nimmt man aber den Faktor der Unabwendbarkeit solcher Geschehnisse als Grundlage einer Gesamtanalyse zum Spiel, kommt man fast nicht um eine Profananalyse herum: ein Exkrementalkick.

Damit wären wir beim ersten Neologismus, den wir im Rahmen dieser Nachbetrachtung in den Sprachgebrauch der deutschen Fußballberichterstattung gerne etablieren würden. Andere Begrifflichkeiten, die sich nach diesem Spiel aufdrängen, sind: Fersenpass, Samtpass, Rudelspiel und Hoheitsball. Zudem hätten wir ein „Diagonalschlag“ (ehedem: „Vorsah-Gedächtnispass“) sowie „Protektor“ im Angebot und wir arbeiten noch an einem allgemeingültigeren Terminus für die „Hoffenheimer Minute“.

Fersenpass, der: Zuspiel an einen Mitspieler entgegen seiner Laufrichtung. Der F. hat eine Ballverlustquote von mindestens 75% und ist ideal geeignet, um das eigene Spiel verlangsamen und zumindest die Fans verzweifeln zu lassen. Wird getoppt vom -> Samtpass.

Samtpass, der: prinzipiell impulsarmes Zuspiel an den Mitspieler mit expotentieller Rotationsreduktion, das ohne Intervention weiterer Kräfte, z. B. Sturmböen in Zuspielsrichtung, Gegenspieler, so dass der Ball vor oder unmittelbar am Mitspieler zum Stillstand käme. (Gegenteil: Zuckerpass, der). Führt oft zum -> Rudelspiel.

Rudelspiel, das: Meist durch einen -> Samtpass hervorgerufene Ansammlung von mindestens drei bis sechs Spieler, mit dem Ziel der Reimpulsivierung des Spielgeräts. Das R. führt meist zu einem Ballbesitzwechsel.

Nimmt man hier noch die etablierten Quer- und Rückpässe hinzu, hat man das nötige Vokabular zur Beschreibung des Spiels unserer Mannschaft in der ersten Halbzeit, dem da jede Variabilität fehlte. Insgesamt war der Torwart der Gäste ganze achtmal am Ball. Fünf Berührungen hat er dabei seinen Mitspielern zu verdanken.

Zweimal wehrte er noch zwei Freistöße von Salihovic ab, die ok platziert, aber auch mit entsprechend ihrer Distanz zum Tor auch mit großer Hoffnung getreten wurden.

Die beste Szene unserer Mannschaft in der ersten Halbzeit war ihre erste und die unmittelbar vor dem Rückstand. Schön über die außen, schön nach innen, doch leider rutschte Volland (?) am Ball vorbei. Und dann kam die erste -> Hoffenheimer Minute.

Hoffenheimer Minute, die: Zeitraum in zeitlich unmittelbarer Nähe zu einem validen Positivereignis der TSG 1899 (Großchance, Tor), in dem der Gegner ein absolutes Positiverlebnis erzielt (Tor).

Keine Ahnung, was dieses Phänomen auslöst, aber haben wir in der Vergangenheit die Spiele, zumindest Punkte in den letzten fünf Minuten eines Spiels verloren, tun wir dies in dieser Saison bisher im Laufe des Spiels meist im Anschluss an eine Extradosis Euphorie.

Das Gegenteil eines Samtpasses durch die Beine des erneut gut spielenden Süle (Mann mit den meisten Ballkontakten unserer Mannschaft, was zwar für ihn, aber nicht für sie spricht) genügte den Gästen zur nicht unverdienten Führung, da sie weit mehr als die eine Chance hatten.

Halbzeit – und gewiss hätte Gisdol gerne mehr als einen Spieler ausgewechselt, aber da Abraham schon in der 1. Hälfte verletzt raus musste und Schippo immer eine Option ist, blieb ihm nur eine. Johnson kam für Elyounoussi.

Die Ordnung blieb gleich, d.h. Salihovic blieb auf der linken Verteidigerposition, Johnson ging ins Mittelfeld und auch gleich gut ran. Das war schon mehr das, was man Fußball nennen kann. Und so nach und nach erspielten wir uns Chancen, so dass man sich dem Unentschieden zu nahen wähnte.

Doch statt des Ausgleiches kam es zur nächsten Hoffenheimer Minute. (Oh, Variante: „Dopaminkonter“?). Dieser „Murmeltier-Effekt“ war auch spielübergreifend, denn wie bereits im letzten Heimspiel brachte sich unsere Defensive durch Rückpässe in die Bredouille, der Befreiungsschlag missglückte, landete beim Gegner und der Ball letztlich im Tor, wobei dies diesmal den Gäste nur mit Hilfe des Schiedsrichters gelang.

Ein normaler bis harmloser Zweikampf, bei dem Vestergaard, der für Abraham in die Mannschaft kam, nichts weiteres tat als sein. Seinem Gegner gelang es nicht, ihn aus der Balance zu bringen, was physikalisch leicht begründbar einen Ausrutscher des Gegners zur Folge hat wie eine schuhsohlengroße rasenfreie Fläche deutlich zeigte. Der Schiedsrichter tat dies auch – auf den Punkt.

Schon sehr ärgerlich. Da rappelt sich unsere Mannschaft so langsam auf und liegt dann wegen einer erneuten Fehlentscheidung eigentlich aussichtslos mit 0:2 hinten. Nach der Spielweise unserer Mannschaft bis dahin, war nicht zu erwarten, dass wir da noch was reißen würden.

Die Chancen, die wir bis dahin hatten und wie wir damit umgingen, erweckten den Eindruck, dass dies einer Spiele ist, die tagelang dauern könnten, ohne dass wir einen Treffer erzielen würden.

Protektor, das: Tor, dessen Linie innerhalb eines Spiels vom Spielgerät trotz bester Chancen nicht regelkonform mit ganzen Durchmesser überquert wird.

Doch plötzlich stand es 2:2. Standardmäßig traf Salihovic zweimal ins Tor der Gäste aus seiner Geburtsstadt. Zuerst verwandelte er gewohnt so sicher wie humorlos einen Elfmeter (nach Foul an dem inzwischen für Polanski eingewechselten Schipplock), danach einen Frei-, der attributiv dem Strafstoß in nichts nachstand.

Euphorie pur. Was eben noch unvorstellbar schien, war jetzt nicht unwahrscheinlich. Und die Mannschaft hatte einen Lauf. Sie spielte zwar nicht gut, aber endlich nach vorn – und das wurde endlich belohnt. Und mit der nächsten Hoffenheimer Minute bestraft.

Mehr oder weniger nach Wiederanpfiff erzielten die Gäste ihre erneute Führung – trotz Hoheitsball.
Hoheitsball, der: langes, hohes Zuspiel in den Hoheitsbereich des Torwarts (Fünfmeterraum). Prinzipiell muss ein solcher Ball vom Torwart angegangen und abgewehrt werden.

Man muss der Mannschaft immerhin das Kompliment machen, dass sie es trotzdem weiter versuchte – und trotz Firmino, einem wahren Großmeister der Fersen-, Samt- und Fehlpässe an diesem Tag. Aber es reichte nicht.

Natürlich kann man darüber diskutieren, wie es ohne die Fehlentscheidung des Schiedsrichters ausgegangen wäre. Vielleicht wären unsere Jungs aber ohne diese Pfeife … äh … ohne diesen Pfiff auch nie aufgewacht. Aber das muss sie jetzt. Die Tabellensituation ist alles andere als beruhigend, zumal auch die Mannschaft, die hinter uns stehen in der Zwischenzeit auch angefangen haben, Punkte zu sammeln.

Zwar haben wir nach zwölf Spieltagen bereits einen Punkt mehr als nach der Hinrunde im Vorjahr, aber noch fehlen sieben, um nach der Hälfte der Saison die Hälfte der zum Nichtabstieg nötigen 40 Punkte auf dem Konto zu haben.

Diese können gewiss in den nächsten fünf Spielen geholt werden, aber diese Spiele sind alles andere als Selbstläufer. Es geht vor allem gegen aktuelle Tabellennachbarn, die nicht minder engagiert und motiviert sein werden als dieser Gegner.

P. S.: supercalifragilisticexpialidocious (adj.) – „atoning for extreme and delicate beauty [while being] highly educable“.

Irgendwie scheint dieser offizielle Definitionsversuch dieses Kunstworts aus „Mary Poppins“ ganz gut zu unserer Mannschaft zu passen. Vielleicht ist dieses „Büßen für eine besondere wie zerbrechliche Schönheit bei gleichzeitig hoher Gelehrigkeit nichts anderes als eine Postrelegationslegitimation?

P.P.S.: Wir sind nicht die ersten, die dieses Wort in Zusammenhang mit Fußball bringen. Im Februar 2000 titelte die Boulevard-Zeitung „The Sun“, nachdem Cletic Glasgow im schottischen Pokalwettbewerb gegen den unterklassigen Club Inverness Caldedonian Thistle mit 1:3 unterlag:

Super Caley Go Ballistic, Celtic Are Atrocious
(„Super-Caley flippt aus, Celtic ist grauenvoll“.)

Zugegeben, viel weitschweifiger kann man wohl „Bildungsblockaden“ nicht umgehen. Aber manchmal geht es nicht anders. Und so ein Spiel, so ein Datum, das kann einen ja schon mal sprachlos machen. Und wozu Sprachlosigkeit führen kann, wissen Sie jetzt: Logorrhoe.

(Bildquelle: Uwe Grün, Kraichgaufoto)

Submit a Comment