FC St. Pauli vs. 1899 Hoffenheim
Harmonische Kakophonie
Die Musik der Massen
Es war mitten in der 2. Halbzeit. Der Schiedsrichter gab einen Freistoß für unsere Mannschaft kurz vor dem eigenen Strafraum. Die Ursache war nichts Besonderes. Irgendein Rempler, um den Spielaufbau zu stören. Der Schiedsrichter pfiff also. Einer unserer Spieler schnappte sich den Ball, der inzwischen ein gutes Stück vom Tatort entfernt war, legte ihn auf den Boden, er ruhte, und spielte ihn dann schnell in die Spitze an den Strafraum der Paulianer.
Dort nahm ihn Ibisevic auf, vertändelte ihn und St. Pauli startete seinerseits einen Schnellangriff. Der Stürmer ward ein wenig irritiert, dass Simunic nicht verteidigte. Er blieb einfach stehen. Der St. Pauli-Spiler lief erst weiter und hielt dann ebenfalls inne. Der Schiedsrichter stand nach wie vor an der Stelle, von der er den von ihm gepfiffenen Freistoß ausgeführt wissen will.
Niemand hörte ihn. Kein Fan, was jetzt so überraschend nicht ist, aber auch kein Spieler. Das mag man als Ausdruck der Fokussierung der Spieler deuten, aber wahrscheinlicher ist, dass diese Ignoranz dem Lärmpegel auf den Rängen geschuldet war.
Was einem also auf den Rängen laut vorkam, war wohl auf dem Rasen nicht wesentlich leiser. Umso höher ist die Seitenarbeit der Trainer zu bewerten (oder zu belächeln). Direkt vor der Gegengeraden postiert konnten sie keinen Spieler akustisch erreichen, der mehr als drei Meter von der Seitenlinie entfernt stand. Wie gesagt: Gegengerade. Und vor der Haupttribüne wäre es aber auch nicht leichter gewesen, denn ganz gleich, wo man steht oder sitzt, es eine einzigartige Stimme(enversamml)ung am Millernor – und ums Millerntor herum.
Und damit ist nicht der Dom, das große Hamburger Volksfest gemeint, sondern das komplette Schanzenviertel. Hier ist ein Verein ein Stadtteil eins.
Zwar gibt es auch hier die gleichen Parameter in und um das Stadion wie auch in allen anderen Stadien, aber es ist der Umgang mit ihnen, die dafür sorgen, dass „der Kiezclub“ seine Seele nicht verkauft, wobei man dazu sagen muss, dass der FC St. Pauli auch einer der ganz wenigen Vereine im deutschen Fußball ist, der eine Seele hat.
Und damit spielt nicht nur das Marketing, sondern auch die Spieler.
Kommen wir aber zuerst aufs Marketing zu sprechen: Ja, im neuen Stadion auf dem Heiliggeistfeld gibt es auch eine Haupttribüne, wo dieTickets mehr kosten als auf den Süd-Stehplätzen. Diese werden aber vom Verein nicht VIP-X, Business-Y o.Ä. genannt, sondern hier heißt die Haupttribüne ganz offziell auf dem Stadionwegweiser „Bonzenkino“.
Dort gibt auch Logen, die aber nicht so heißen. Wer sich die Rückseite seines Tickets genau durchgelesen hat, kann es selbst lesen: „Séparées.“
Das hat Witz, das hat Charme, Seele eben – erworben in einem „Jahr100“ und einem ganz besonderen Umfeld. Also nicht vergleichbar mit unserem Verein, auch wenn der dem Papier nach elf Jahre älter ist. Und niemand erwartet das auch. Aber es war eine Lehrstunde, wie man etwas wie rum richtig macht.
Eine schöne Überleitung zum Spiel …
Bis auf die 5. Minute und noch mal um die 20. haben unsere elf alles richtig gemacht. St. Pauli kam kaum zu Torchancen. Dumm nur, dass die Heimmanschaft noch weniger Fehler machte, so dass sich beide Mannschaften, immerhin Platz 2 gegen Platz 1, egalisierten.
0:0 zur Pause und endlich gab es mal ein Gefühl dafür, warum es das Wort „Stadionwurst“ überhaupt gibt. Hier gab’s kein „teilerwärmtes Teilfleischprodukt im Saitling in Glutamatsee mit brötchenanmutendes Nahrungsmittel aus Teigersatz“. Es gab nicht mal ein Brötchen. „Wurst“ Punkt. Und gegenüber: „Durst“. Ja, Kommunikation kann so einfach sein.
Zurück durch diverse Stahlrohrgestänge auf extrem matschigen Boden zum Spiel, wo sich erstmal alles so anließ wie gehabt. Sehr konzentrierte, sehr diszipliniertes Spielverhinderungsspiel. Dann aber, so langsam, so Stück für Stück, ließen die Offensivaktio… Offensivbemühungen der Gastgeber nach und unsere Mannschaft legte noch einen Zahn zu.
Dabei hatten die eingewechselten Spieler (Vukcevic, Tagoe) großen Anteil. Sie kamen für Weis und respektive Ba, und fingen das Rennen an.
Die Löcher in der Abwehr wurden größer, der Druck unserer Mannschaft auch. Toooooor. Der eingewechselte Vukcevic schiebt den Ball über die Linie. Und während das ganze Dorf jubelt, jubelt auch das Schanzenviertel. Abseits. Nie im Leben … Das kann doch gar nicht … Die Atmosphäre sorgte auch unter den Hoffenheimer Fans für ungewohnt temperamentvolle Unmutsbekundungen. Aber auch Disziplin. Wenn nicht jetzt, dann dann …
Eckball. Auf den kurzen Pfosten. Bewusst ungedeckt. Pauli wehrt ab.
Wieder Ecke. Diesmal springt Kung Fu-Vorsah rein und drückt den Ball mit der Sohl über die Linie an der Stelle, wo sonst ein Abwehrspieler steht.
87. Spielminute. Tor für die TSG 1899 Hoffenheim …
Hören konnte man nichts, denn die Fans der Heimmanschaft gaben nicht auf. Sie feuerten ihre Mannschaft weiter an – und das zu einem Zeitpunkt, wo bei uns das Stadion schon nahezu halbleer wäre.
Und dann, weitere fünf Minuten stand nicht nur fest, dass 1899 auch nach dem 2. Spieltag Tabellenführer sein wird (was bedeutet, dass wir mit 15% Wahrscheinlichkeit Meister werden), sondern auch die Anhängerschar geschlossen zu ihrer Mannschaft. „You’ll never walk alone“ sangen sie nach der Niederlage – genau der Text, der auch die St. Pauli-Hundeleine ziert.
Es war vielleicht nicht das ganz große Fußballspiel, aber es war ein ganz großes Fußballspektakel.
PS: Liebe DFL, bitte vormerken: Nächste Saison, gleiche Paarung, ungefähr gleicher Zeitpunkt (oder Rückrunde ab Mitte März), aber, wenn es geht, Freitag abend. Danke.
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