Borussia Dortmund vs. 1899 Hoffenheim
Entropie und Epistemologie
Ein richtiger Scheiß-Sieg –
voller Physik und Philosophie
Nachdem Bebou nach rund zwei Minuten die 1:0-Führung erzielt hatte, war jedem klar, dass noch verdammt lange zu spielen war. Die Zeiten, dass ein Spiel 90 Minuten dauert, sind ja schon lange vorbei. Aber der Beginn dieses Spiels war schon mal verheißungsvoll.
Nun waren die letzten Wochen ja eher dergestalt, dass es nach Ansicht vieler Fans – außer denen der TSG – Grund zu so manchem Lob gab, aber die Tenniszeiten waren ja nicht vorbei. Umso mehr verdient unser Torschütze ein Lob, weil er eben keinen Lob spielte. Er wählte die eigentlich noch schwerere Variante: über rechts mit rechts über die linke Schulter des Torwarts in lange, linke Eck. Einfach war das nicht, dafür aber einfach schön anzuschauen.
Doch der Schuss war nur das schöne Ende einer sehr schönen Bewegung von Bebou, die zur Balleroberung führte. Denn es war nicht der schwache Querpass der Gäste vor dem eigenen Sechzehner, der zu der Balleroberung führte, sondern der Schritt vom Ball weg des Passempfängers und den wiederum verursachte Bebou dadurch, dass er antäuschte, den Außenbahn zustellen zu wollen, um dann direkt auf den Ball zu gehen, dann damit direkt aufs Tor, um den dann direkt darin zu versenken.
Das ging doch in der Tat direkt mal sehr gut los. Aber es war halt noch verdammt lang zu spielen. Gewiss de facto mehr als die 90 Minuten, die 1897 als offizielle Spielzeit im Regelwerk festgehalten sind.
Zuvor einigten sich die Teams auf die Länge der Begegnung, die man entweder in Zeit maß oder in Toren oder was auch immer.
Aber man musste kein Physiker sein (oder Physikerin), um zu ahnen, dass dies gewiss nur der Auftakt war für einen Verlauf, der sich wirr wird entwickeln, denn so ist es sowohl in der Physik (immer) als auch bei der TSG (immer wieder): Ereignisse entwickeln sich so, dass alles insgesamt tendenziell unordentlicher wird.
Diese Zunahme der Unordnung ist es, die physikalisch der Zeit eine Richtung gibt. Im Umkehrschluss bedeutet das: Die Energie des Universums muss am Anfang extrem „geordnet“ gewesen sein – sonst gäbe es ja nicht die Möglichkeit, immer ungeordneter zu werden. Wenn man das aber zu Ende denkt, müsste das Universum irgendwann einen maximal ungeordneten Zustand annehmen, in dem sich der Zeitpfeil und damit die Zeit auflöst, weil es im Universum keinen Unterschied mehr gibt zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Auch wenn diese Phase noch weit, weit länger als jedes Fußballspiel inkl. aller Nachspielzeiten, Verlängerungen und Elfmeterschießen dauern wird (Fachleute sprechen hier von Milliarden von Jahren), bestätigte dieses Spiel diese Gesetzmäßigkeiten der Entropie.
Umgangssprachlich wird die Entropie häufig als ein „Maß für die Unordnung“ bezeichnet. Allerdings ist Unordnung kein definierter physikalischer Begriff und hat daher kein physikalisches Maß. Richtiger ist es, man begreift die Entropie als ein wohldefiniertes objektives Maß für die Menge an Information, die benötigt würde, um aus der Kenntnis des vorliegenden Makrozustandes des Systems den tatsächlich vorliegenden Mikrozustand bestimmen zu können.
Je größer die Anzahl infrage kommender Mikrozustände ist, desto mehr Information wird benötigt. Das heißt: Entropie ist nicht das „Maß für die Unordnung“, sondern das „Maß für die Unkenntnis der Zustände aller einzelnen Teilchen“.
„Entschuldigung. Da ist eine Frage … Bitte?“
„Könnt ihr das nicht mal normal ausdrücken?“
„Ja, doch. Selbstverständlich. Entschuldigen Sie bitte:
‘Je mehr wir sehen, desto weniger verstehen wir.‘“
Ein Beispiel hierfür war der Führungstreffer bzw. wie ihn die diversen Kommentatoren gesehen haben, z. B. er
Ihnen allen entging das Anlaufen der Mannschaft auf den ballführenden Spieler, der ihn zu diesem Querpass zwang, als auch die Körperbewegung von Bebou, die dafür sorgte, dass der potenzielle Ballempfänger nicht auf den Ball zu-, sondern von ihm wegging.
Ein weiteres Beispiel sind Forenfans, deren Maß für die Unkenntnis der Zustände aller einzelnen Teilchen relativ proportional zu ihrer – weil selektiven – Wahrnehmung zunimmt.
Die Frage, die man sich also immer stellen muss, naja: zumindest sollte, ist nicht, was wir wissen oder zu wissen glauben, sondern warum wir das tun – und die Antwort darauf ist die Epistemologie, also die Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird.
„Entschuldigung. Da ist noch einmal eine Frage … Bitte?“
„Verdammt noch mal: Könnt. Ihr. Das. Nicht. EIN Mal. NORmal ausdrücken?“
„Ups, war das jetzt so ….? Naja, aber klar:
‘Alles, was wir wissen (können), wissen wir bzw. können wir nur wissen aus der Vergangenheit.‘“„Geht doch …“
Bis zu ungefähr dem gleichen Zeitpunkt, als man sich auf die Spieldauer festgelegt hat, hatte man die Vorstellung, dass der Ausgangspunkt aller Erkenntnis der des erkennenden Subjekts war, das das Verhältnis von Begriff und Objekt in den Mittelpunkt stellt.
Jetzt war es nicht mehr das Sub-, sondern das Objekt, dass das Maß aller Dinge der Erkenntnis war. Statt der Frage, wie das erkennende Subjekt seine Gegenstände in den Blick bekommen kann, wird die Frage nach den Bedingungen gestellt, die entweder geschaffen wurden oder geschaffen werden müssen, um Gegenstände unter jeweils zu bestimmenden Bedingungen zu Gegenständen von empirischem Wissen zu machen.
„Wieder eine Frage … ?“
„Ne, ich zieh‘ zurück. Obwohl … Wie heißt das Gedönse?“
„Epistemologie.“
„Episte…Was…? Ich krieg Pusteln von dem Zeug. Egal, weiter …“
„Sehr wohl … Aber es ist ganz einfach:
‘Wahrnehmung ist nicht Wahrheit.‘“„Meine schon.“
„Wie gesagt … :-)“
Jetzt hat die TSG in den vergangenen Spiel(zeit)en oftmals bewiesen, dass sie früh dominant auftreten und sich Chancen erspielen kann, aber selten als Sieger vom Platz ging. Und selbst, wenn wir in Führung gingen, was in der Saison bisher ein Dutzend Mal der Fall war, mussten wir in einem Drittel aller Fälle Punkte abgeben.
Dies sowie eben die Verläufe und Ergebnisse der letzten Partien ließen den Jubel ob des Führungstreffers verhalten ausfallen, denn der Blick ging sofort zur Uhr. Es war noch verdammt lang zu spielen.
Und die Folgeminuten zeigten alles, was wir sowohl aus der (jüngsten) Vergangenheit auf dem Platz kennen als auch in den obigen Zeilen dieses Texts zu Entropie und Epistemologie lernen durften. Was ’ne Scheiße!
„Keine Zwischenfragen? Deutlich genug?“
„Ja. Danke.“
„Nur der sprachlichen Sauberkeit wegen: Gemeint sind hierbei weder Produkte der Exkretion aus dem Harn- noch der Defäkation aus dem Magen-Darm-Trakt, sondern deren vulgärspachliche Metapher als Maledictum, sprich: Schimpfwort für ein unangenehm empfundenes Ereignis.“
„Ihr bringt mich um …“
Oder wollte die TSG Jahrmilliarden überspringen und die Monotonie der Zeit in der verbleibenden Spielzeit oder hat sie sie gar unmittelbar nach dem Führungstreffer erreichen, denn im Gegensatz zur Zeit als solche, die nur eine Richtung kennt, ging bei der TSG aber mal so gar nichts mehr nach vorn.
Es waren die Hausherren, die Zeit und Raum dominierten, sich Chancen er- und uns herspielten. Und gab es mal eine Chance unsererseits, an den Ball zu kommen, gaben wir ihn sehr zeitnah wieder her – und so dauerte es nicht lange, bis wir vor dem Fernseher durch-, die Forenfans hohl- und die Gastgeber das Spiel drehten. Sie benötigten vier Minuten und zwei Standards dazu.
Wir wissen nicht, welches Experiment unsere Elf verfolgte, aber das Gefühl war: „Exkrement!“ (s. o.)
Es entsprach aber der Physik dieser Partie, dass es dann die Gastgeber waren, die nach der Führung in den Zustand der Monotonie verfielen. Statt sich eine neue Dimension zu eröffnen, kreisten sie nur noch um sich selbst. Unser Gehäuse schien plötzlich eine Schwerkraft zu entfalten, die sie nicht länger anzog, sondern in einer Art Umlaufbahn verharren ließ.
Zu unserem großen Erstaunen hielt dieser Trabanten-Modus auch nach Wiederanpfiff an. Und zu unserer noch größeren Freude ging, nachdem die Sonne in unseren Breiten längst untergegangen war, der Stern der TSG auf.
Maximillian Beier, der schon zuvor einen Weckruf aka Ball abfing (und über das Tor lederte), erlief den Steckpass von Grillitsch in der eigenen Hälfte, düste durch den freien Raum im Norden, zog dabei mehrere Gegenspieler auf sich, dann ab und wieder schlug der Ball die Richtung seines letzten Schusses, aber dann dank physische Reflexion doch IM Tor der Borussen ein. Oder anders ausgedrückt:
Nun war diese Partie eine, deren Ausgewogenheit in puncto Tore immer zu einem sofortigen Momentum der Kräfteverschiebung führte.
- Aus 0:0 wurde nach wenigen Minuten 0:1 – und die Mannschaft in Führung stellte das Spielen ein, während die andere mehr Druck entwickelte, bis es nach etwas mehr als einer Viertelstunde zu einer Explosion, sprich: Ausgleich kam
- Aus dem 1:1 wurde nach wenigen Minuten 2:1 – und die Mannschaft in Führung stellte das Spielen ein. Dann (im zweiten Durchgang) entwickelte die zurückliegende Mannschaft wieder mehr Druck und wieder kam es zu einer Explosion, sprich Ausgleich.
- Aus dem 2:2 wurde nach wenigen Minuten 2:3 – …
… und die Mannschaft in Führung stellte das Spielen ein …
Diesmal allerdings nicht komplett, und das, obwohl die zurückliegende Mannschaft mehr Druckelemente in ihr Gefüge einbaute, die zwar Wirkung zeigten, aber letztendlich doch alle verpufften – und das, obwohl sie noch einige Male sogar bis auf die Grundlinie oder gar in den Strafraum kamen.
Die größte Gefahr für unser Gehäuse kam – wenig überraschend – durch einen Standard zustande. Der Spieler setzte seinen Kopfball – und das, obwohl er völlig frei war –, weit über das Tor – entsprechend übergroß war dann die Freude bei der TSG über den Schlusspfiff, den Sieg, der fast so unerklärlich war wie der legendäre am 18. Mai 2013, wo wir ganze zwei Mal auf deren Tor schossen.
Diesmal standen fünf Torschüsse zu Buche, drei davon waren drin. Drei Punkte mehr. Dreißig insgesamt. Und noch dreiunddreißig zu holen. Elf Spiele stehen noch für unsere Elf an – und noch stehen wir an erster Stelle eines sehr engen Mittelfelds – mit vier Punkten Rückstand auf einen garantierten Platz in einem europäischen Wettbewerb – und die Teams vor uns spielen auch nicht gerade konstant guten Fußball, so dass auch nach oben noch vieles möglich ist.
So ein richtiger Urknall war unser Spiel jetzt nicht, aber uns würde es reichen, wenn unser Trainer Recht behielte mit seiner Annahme, dass Spiel ein „Momentum-Changer“ gewesen sei. Wobei wir es schon ganz schön fänden – im Gegensatz zum Kardiologenverband Rhein-Neckar wohl, wenn dieses Momentum-Changing innerhalb eines Spiels nach einer Führung unsererseits nicht mehr stattfände.
Wir würden am Ende der Saison gerne in einem Europokal landen (EP), nicht im OP.
Danke. 🙂
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