VfB Stuttgart vs. 1899 Hoffenheim
Das Credo des Trainers
Ein Spiel zum Lehrendraus- und Strichdrunterziehen
„Wir können nur Spektakel.“
So sprach Markus Gisdol auf der Pressekonferenz vor diesem Spiel und auch hier hielt er Wort. Leider ging es diesmal nicht zu unseren Gunsten aus. Mehr noch: Es ging richtig in die Hosen. Und diese gilt es jetzt intern runterzulassen.
Es war nicht nur ein Spiel, das wir mit vier Toren Unterschied verloren haben, sondern das auch deutlich machte, wie sehr uns die vier Punkte fehlen, die wir in den bisherigen Heimspielen haben liegen lassen, denn die wirklich schwierigen Gegner kommen ja erst noch.
Doch das Lamentieren über das 2:6 im zweiten Auswärtsspiel der Saison bringt genauso wenig wie das Jubilieren über das 5:1 im ersten. De facto hat es alles nivelliert – angefangen von der Tordifferenz bis hin zur Einschätzung der Leistungsstärke der Mannschaft.
„Wir sind noch nicht stabil!“
Das war der Folgesatz auf jener Pressekonferenz – und auch da behielt unser Trainer recht – leider – und hielt an seiner Taktik fest. Leider?
Es gab auch in der Vorsaison in viel prekäreren Situationen hohe Niederlagen sowohl in der Ferne als auch zu Hause. Wer glaubte nach dem 1:5 in Leverkusen, dass es diese Mannschaft noch schaffen würde? Und nach dem 1:4 daheim gegen den HSV waren es bestimmt nicht mehr. Alles Weitere ist bekannt.
Das lag nach allem, was bisher so analysiert wurde, daran, dass der Trainer an dem festhielt, was man militärisch „Marschrichtung“ nennt, theologisch „Credo“.
„Credo“ ist eines der vielen Worte lateinischen Ursprungs, die es in den allgemeinen Sprachgebrauch im Deutschen geschafft haben, ohne dass sich die Deutschen seiner ursprünglichen Bedeutung bewusst sind.
Schöne weitere Beispiele sind in der wahren Welt „Alibi“ (von „alius“ – „ein anderer“), „ambulant“ (von „ambulare“ – „wandern“), „Negligé“ (von „neglegere“ – „vernachlässigen“), in der Warenwelt „Audi“ (wortwörtlich: „Horch!“), „Volvo“ (wortwörtlich: „Ich rolle“). Dazu kommen noch all die, die voll assimiliert sind, deren lateinischen Ursprung man gar nicht mehr erkennt wie beispielsweise „Nase“, „Fenster“, „Pfirsisch“, was auf „persicus“ zurückgeht („der Perser“). Übrigens nicht die einzige Frucht mit Herkunftsnachweis im Namen: die Apfelsine gehört auch dazu („chinesischer Apfel“) – und wer denkt bei der Frucht nicht an den Sündenfall? (Übrigens, wo wir gerade so schön im gepflegten Halbwissen verweilen: Wievielmal kommt das Wort „Apfel“ in der Heiligen Schrift vor? (Tipp: Die Antwort klingt genau wie der Name des ersten Mörders in der Bibel.)
„Credo“ steht heute synonym für Überzeugung oder, wie Unternehmen gerne in Jahresberichten und Internetseiten jenen Punkt gerne so vollmundig wie übertrieben nennen, Philosophie. Dabei heißt es nichts weiter als „Ich glaube“ und dient in einem christlichen Gottesdienst der Bekräftigung des rechten Glaubens zur Abgrenzung von Irrlehren.
Das Glaubensbekenntnis hat also durchaus etwas Fundamentalistisches. Aber eben auf Basis des Glaubens – und damit verbunden natürlich auch des Hoffens, dass das, woran man glaubt, auch wahr werden möge.
Nun ist die Frage, wie man darauf reagiert, wenn es nicht eintritt. Heute sind es ja nicht mehr die Theologen, die das Denken vorgeben und das Sagen haben.
Diese Stellung haben sie an die Ökonomen verloren, die in solchen Situation auch gerne zu „schnellem Handeln“ raten, wohlweislich außer Acht lassend, wie das Handeln konkret aussehen soll und selbstverständlich ohne Garantie, dass das dann besser ist.
Diese Garantie gibt es auch nicht von den Theologen, nur halten sie an ihrem Credo fest. Und das wird der Mann auch tun, der nach einem der vier Evangelisten benannt ist und der, der theologischen Koinzidenzen nicht genug, ja spätestens nach dem Nichtabstieg wie ein Messias gefeiert wurde.
Eine hohe Verteidigung, ein schnelles Umschaltspiel nach vorne und ein schneller Abschluss. Davon klappte bei dem Spiel nichts und Wowereit („Das ist auch gut so!“)
Zumindest, wenn man dem Volksmund Glauben schenken darf, der ja als Quelle der Erkenntnis kennt: den Fehler. Und da es davon in dem Spiel nicht nur einen gab, war dieses Spiel nicht nur sehr tor-, sondern auch sehr lehrreich.
Theoretisch dient eine hohe Verteidigung ja vor allem dem Zweck, die Räume im Mittelfeld eng zu machen. Dadurch erhöht man zwangsläufig die Tiefe des Raumes, also die Distanz zwischen Abwehr und Torwart. Doch aus der kam niemand von uns, vielmehr spielte der Gegner in sie – immer und immer wieder.
Dies gelang ihm, da es unseren Spielern nicht gelang, diese Theorie in die Praxis umzusetzen, wozu es unbedingt nötig ist, auch den Raum zum Gegenspieler eng zu machen.
Unseren Spielern fehlte jene weithin bekannte Distanz, die das Licht im Vakuum binnen 1/299792458 Sekunde zurücklegt, sowie von Spielbeginn an das, wogegen jeder Drogeriemarkt Dutzende von Mitteln feilbietet, zumindest für Haare, sofern diese einen Mangel daran aufweisen: der berühmte Meter und Spannkraft.
So konnte der Gegner das, was unsere Abwehr in Anbetracht der Präzision der Zuspiele musste: passen. Dazu kam, dass unsere Zuspiele genau das nicht waren: präzise.
Diesmal versuchte man nicht, das Mittelfeld mittels Vorsah-Gedächtnispass (diagonal von rechts hinten nach links vorne) zu überbrücken, sondern sich durchs Mittelfeld zu spielen. Eine durchaus kluge Überlegung, aber sie bedingt natürlich Laufbereitschaft, Kenntnis der Wege und Genauigkeit bei der Ballabgabe, die eine Ballmitnahme fast ohne Ballannahme ermöglicht.
Gut gedacht, war’s. Gut gemacht nicht.
1:3 stand es zwar bereits zur Halbzeit, und dennoch glaubten die Fans sowie die Ticker-Redakteure nicht, dass die Messe bereits gelesen sei. Denn das Ergebnis war nicht die Folge der Überlegenheit der Gastgeber, sondern eigener Trotteligkeit.
Vor dem 0:1 achteten die Spieler bei einem Freistoß am eigenen Strafraumeck in Erwartung auf den Ball mehr auf ihre eigene Position als auf die Situation und den Ball an sich. Dieses Chaos machte sich der Gegner zunutze. Schnell ausgeführt, Grundlinie, quer vors Tor und drin.
Vor dem 0:2 klärte Beck (relativ) unbedrängt einen Ball zur Ecke statt ins Seitenaus. Zugegeben, die erste der Gastgeber war schlecht getreten, aber das zum Anlass zu nehmen, dass alle weiteren ebenso sein würden, weshalb man nicht auf seine Gegenspieler achten müsse, erwies sich als Torheit.
Nichtsdestotrotz spielte die Mannschaft weiter nach vorn und kam durch Volland auch zum nicht einmal unverdienten Anschlusstreffer. Doch wie es in dieser jungen Spielzeit schon so oft der Fall war, folgte auch diesmal dem eigenen Treffer ein Gegentreffer. Casteels kam raus und trat vor dem Sechzehner sowie dem herannahenden Gegner einfach mal so neben den Ball.
Direkt vor der Pause lupfte dann Elyounoussi in bester Volland-Manier den Ball über den Gästekeeper ins Tor. Doch der Treffer wurde aufgrund eines vermeintlichen Foulspiels vom Schiedsrichter nicht gegeben.
Auch wenn andere Schiedsrichter die Szene anders bewertet hätten, zeigt es doch, dass wir uns nicht aufgegeben haben. Zudem basierten die Tore der Gegner auf unseren Fehlern und die eigenen Tore auf unserer Leistung.
So sah man doch der zweiten Halbzeit zwar mit Spannung, aber doch relativ entspannt entgegen. Trotz des Zwei-Tore-Rückstands spielte unsere Mannschaft munter mit. Doch als sich der Rückstand keine 100 Sekunden nach Wiederanpfiff um 50% vergrößerte, nahm die Hoffnung auf einen Sieg über den Nachbarn um die doppelte Prozentzahl ab.
Zu einfach wurde der Treffer erzielt. Nach wie vor stand die Verteidigung sehr hoch. Gisdol hielt also an seiner Taktik fest. Und das tat er auch, nachdem ein langer Ball und ein Sprint sowie eine Torwartumkurvung genügte, um zum 1:4 einzuschieben.
Vielleicht war es richtig, daran festzuhalten. Ein Sieg war ohnehin unwahrscheinlich geworden. Selbst ein Unentschieden wäre ein kleines Wunder gewesen, so dass es vielleicht das Klügste war, das Spiel so jetzt und so gut es geht zu Ende zu spielen, um einfach zu sehen, welche Schwächen dem System bei den Spielern inhärent sind.
Es folgten die Treffer zum 1:5, dem 1:6 sowie ein Stolperer Firminos zum 2:6. Letzterer veranlasste dann die zahlreich mitgereisten Fans zum fast-frenetischen Jubel „Auswärtssieg, Auswärtssieg“. Und das war nicht höhnisch gemeint. Es war einfach eine Dokumentation der Unterschiedlichkeit zwischen Badenern und Schwaben.
Hier gab es keinen Groll. Unmut ja, Verärgerung ja, aber keinen Hass oder so etwas. Es lief einfach scheiße, und solche Tage gibt es nun einmal im Leben. Das ist ja noch lange kein Grund, sich selbst runterzuziehen. Im Gegenteil, der Badener erkennt, dass auch an diesem Nachmittag nicht alles schlecht war und beruhigt sich damit.
„Weesch? ’s hedd a regne känne.“
Und so fuhr man nach Hause in die Länderspielpause und freut sich auf das nächste Spektakel im Glauben, dass der Herr (Gisdol) das alles richten wird.
(Bildquelle: Uwe Grün, Kraichgaufoto)
Submit a Comment