1899 Hoffenheim vs. Hamburger SV
Aufbau und Gegner.
Der effektive Dreier mit einer Null.
Warum gehen die Leute zum Fußball? Das ist eine der beliebtesten Fragen der Philosophen und solche, die sich dafür halten, sowie der Feuilletonisten, sofern sie sich des Volksphänomens annehmen bzw. annähern wollen.
Die Bandbreite der Antwortmöglichkeiten ist enorm. Die einen sehen den Grund hierfür im aristotelischen Theater und seiner Ästhetik begründet, wie zum Beispiel Prof. Lange vom Institut für Fankultur an der Universität Würzburg, andere gehen in ihrem Erklärungsversuch noch weiter zurück, wie der Philosoph Peter Sloterdijk, der meint, das Fußballspiel sei „atavistisch“, „eine anthropologische Versuchsanordnung“ und „es gibt kaum ein Spiel, bei dem unsere alten protoartilleristischen Jagderfolgsgefühle so deutlich imitiert werden können.“ (Quelle), während wiederum andere die Ursache in der initialen Unkenntnis der finalen Faktizität sehen, wie Sepp Herberger, der es aber im Gegensatz zu Sloterdijk dem Wesen des Spiels gemäß einfach auszudrücken wusste: „Weil die Leute nicht wissen, wie es ausgeht.“
Wir vermögen hier nicht abschließend zu urteilen, wer Recht hat, aber ausgehend von dem gestrigen Spiel ist es weder der Instituts- noch der ehemalige Übungsleiter.
Von den ersten fünf Minuten, einigen wenigen weiteren Momenten in den darauf folgenden 85 sowie dem Gefühl danach, insbesondere in Kombination mit den weiteren Ergebnissen einmal abgesehen, kann man das Spiel wahrlich nicht als „schön“ bezeichnen, es sei denn, man fasst den Begriff der Ästhetik extrem weit und kreiert auch noch die „Ästhetik des entscheidenden Fehlpasses“. Zum Glück aus Hoffenheimer Sicht würden nach diesem Spiel fast alle Beiträge zu diesem Kapitel von den Gästen kommen.
Nicht, dass unser Spiel in Gänze betrachtet wesentlich ästhetischer gewesen wäre, aber es war zumindest in zwei Situation präziser, effektiver und damit erfolgreicher.
Dass diese beiden Momente am Anfang und Ende des 1. Aktes lagen, spricht ein wenig für die Theatertheorie, dennoch lag diesem Geschehen keine entsprechende, vorab geplante Dramaturgie zugrunde, neudeutsch: Matchplan.
Der Anfang war gewiss so gewollt. Aber alles andere ergab sich, weil sich auch die Gäste schnell ergaben.
Und das war ebenso eine Überraschung wie die Aufstellungen. Während die Gäste verletzungsbedingt einige Umstellungen in ihrer Startelf vornehmen mussten, waren bei uns alle Spieler an Bord. Sogar Johnson, der sich im letzten Spiel die Hand brach, stand im Kader, jedoch nicht in der Startelf. Ebensowenig wie Vestergaard, Hamad, Schipplock, Elyounussi. An ihrer Statt begann die TSG mit Abraham, Salihovic, Herdling, Volland und Strobl.
Viel Risiko, denn diese Aufstellung ging mit der Umstellung von drei von vier Positionen in unserer alles andere als sattelfesten Defensive einher, denn die Johnson-Position nahm nicht Salihovic ein, sondern Beck, der auf rechts von Strobl ersetzt wurde.
Da auch die Abwehr der Gäste nicht gerade im Ruf der Unüberwindbarkeit steht, war es doch überraschend, dass wir insgesamt etwas defensiver auftraten – sowohl auf dem Papier als auch auf dem Platz. Aber dieses „weniger hoch stehen“ zahlte sich aus.
Der Gegner hatte zwar mehr Raum insgesamt, er konnte sein Spiel ruhiger aufbauen, aber damit kam er nicht weit. Spätestens 30 Meter vor unserem Tor war Schluss. Aus einer kompakter stehenden Abwehr heraus wurde die Gäste dann angegangen, in Zweikämpfe verwickelt und meist zum Ballverlust gezwungen.
Daran sollte sich wohl laut Matchplan ein schnelles Umschaltspiel anschließen, was es auch in der 4. Minute tat: Rudy auf Lokomotive Volland, der erst sich samt Ball über das halbe Feld, dann Firmino durch nahezu perfektes Zuspiel auf die Reise und jener qua sattem Spannstoß den Ball zwischen die Beine des Gästekeepers in die Maschen schickte. 1:0
Was jetzt bis zum Ende der Rückrunde fehlt, ist ein offensichtlich irregulärer Treffer, der uns gegeben, sowie ein offensichtlich regulärer Treffer, der unserem Gegner nicht gegeben wird, um dann die Richtigkeit der Phrase zu bestätigen, wonach sich im Laufe einer Saison alles ausgleicht. (Psycholinguistischerweise nicht ganz uninteressant, nennt der Volksmund das „ausgleichende Gerechtigkeit“, wenngleich „ausgleichende Ungerechtigkeit“ das doch im Grunde wesentlich genauer träfe.) Denn der Treffer hätte standbildbewiesen nicht gelten dürfen, da Firmino zum Zeitpunkt des Zuspiels im Abseits stand.
Bei dem Tempo wirklich schwierig für den Linienrichter zu sehen, zumal es ja überhaupt für den Mann mit der Fahne (nein, nicht Ahlenfelder, den Schiedsrichter-Assistenten) fast unmöglich ist, Abseits zu erkennen, wie eine vergangene Woche veröffentlichte Studie der Sporthochschule Köln ergab.
Oder er ist tief drin wie wir der Meinung, dass es eine „Ästhetik-Klausel“ im Regelwerk geben sollte, wonach eine geringe Regelverletzung bei offensichtlicher, ganzheitlicher Eleganz eines Spielzugs durch die Schiedsrichter toleriert und nicht abgepfiffen werden sollte. (Hätte doch was …)
Was auch immer der Grund war: Seine Fahne blieb unten, die Arme unserer Spieler und die der Zuschauer jagten in die Höhe. So, genau so, hatte man sich das vorgestellt. Warum nicht gleich, im Sinne von letzter Woche, so? So will man das. So soll es sein.
Sodele … Wer jetzt auf ein Spektakel hoffte, hoffte vergebens. Nach dem Tor war Schluss mit dem schönen Spiel, wie man ja Fußball in Brasilien nennt.
Die Gäste hatten gefühlt 85% Ballbesitz, der allerdings meist für Querpässe im Niemandsland draufging, so dass der Platzwart schon befürchten musste, in der Halbzeit die Mittellinie nachzuziehen. Und unsere Mannschaft blieb diszipliniert auf ihren Positionen, ließ sich nicht rauslocken und harrte, denn sie hatte ja bereits das, was man in der Werbung mit Audi in Verbindung bringt: Vorsprung durch Technik – und diesen Vorsprung hielt sie durch Taktik sowie oben dargelegter Disziplin.
Eine Bewertung des Dargebotenen fällt schwer, da man einerseits frustriert war ob der mangelnden Ballbehandlung, der unpräzisen Zuspiele, die Verwirrtheit in den Laufwegen, andererseits aber auch froh, dass die Abwehr nichts zuließ und wir sicher 1:0 führten. (Die beste Formulierung dazu gab es wohl in der Sportschau zu hören, die davon sprach, dass die 1. Halbzeit „keine Sternstunde des deutschen Fußballs war.“ (Ganz im Gegensatz zu unserer ersten 1. Halbzeit gegen denselben Gegner.))
Obwohl … „sicher 1:0“? Ganz allgemein ist diese Formulierung im Fußball ein Oxymoron – und bei uns trifft diese rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander (scheinbar) widersprechenden oder sich gegenseitig ausschließenden Begriffen seit Jahren, gerade in dieser Saison ganz besonders zu.
Und während in wortwörtlicher Anbetracht des Spiels unserer Mannschaft und in Kenntnis der Verläufe vieler Partien dieser Saison die Nervosität sowie die Furcht vor einem möglichen Ausgleich der Gäste kurz vor der Pause wuchs, gab es Eckball für unsere Mannschaft, der zu unserem Entsetzen auch noch kurz ausgeführt wurde.
„Nein!“ und „Bloß nicht!“ schrien wir Salihovic aus über 120 Meter zu, aber er hörte nicht auf uns, was (wie immer? ausnahmsweise?) weise war.
Er spielte sie kurz, erhielt den Ball sofort wieder und zu unserer großen Überraschung blieb die Fahne des Linienrichters wieder unten, aber diesmal zu Recht, da sich der Verteidiger der Gäste, der den langen Pfosten abdeckte, erst von der Linie löste, als Salihovic den Ball ein zweites Mal am Fuß hatte. Oder sollte man sagen „am Eisen 9“? Oder gar „Lofting Wedge“?
Jedenfalls chippte er den Ball in den Strafraum, sehr hoch, mit großer Rotation entgegen der Flugbahn, wodurch das Spielgerät der Anziehungskraft von Mutter Erde sowohl zeitlich als auch räumlich lange widerstehen konnte, so dass es einen weiten Weg zurücklegen konnte. Erst auf Höhe des inzwischen unbewachten langen Pfostens senkte es sich auf für Süle leicht erreichbare 220 cm, wo er ihm mit einem leichten Nicken den entscheidenden Impuls zur Richtungsänderung gab – und uns den zum erneuten Jubel.
Da paarte sich die Erleichterung ob des Nichteintretens des Befürchteten mit der Freude ob des Eingetretenen des Erhofften. 2:0 – und zugleich sorgte unser Abwehrrecke mit diesem, seinem Tor dafür, dass unsere Abwehr den unrühmlichen Beinamen „Schießbude der Liga“ an die Gäste-Abwehr verlor.
„Jetzt bloß kein Gegentreffer noch vor der Halbzeit“, hofften wir, was sich eine Viertelstunde später wandelte in ein „Jetzt bloß kein Gegentreffer nach der Halbzeit.“ Die Spuren der Fahrt ins Frankenland sind noch spürbar …
Und es war ja spätestens jetzt zu erwarten, dass die Gäste mindestens zwei Gänge zulegen würden. De facto lagen sie ja vor dem Spieltag nur zwei Punkte hinter uns, sodass sie uns mit einem Sieg hätten überholen können. Es war also nicht falsch, zuerst einmal die Anfangsviertelstunde der 2. Halbzeit abzuwarten und sicher zu überstehen, zumal das ja die 15 Minuten des Spiels sind, in dem wir am anfälligsten für Gegentreffer sind. Rund 25% aller Gegentore kassierten wir bislang zwischen der 46. – 60. Minute.
Aber von den Gästen kam nichts. Sie versuchten weiter, die Mittellinie zu entkreiden, was man aber auch der Abwehrarbeit unserer Mannschaft positiv ankreiden muss. Sie lief mit und mögliche Räume zu, dadurch lief zwar nach vorne bei uns wenig, aber beim Gegner insgesamt gar nichts.
Auch in der 2. Halbzeit blieb unser Aufbauspiel eher ungefährlich. Vereinzelte Chancen, das Spiel schnell zu machen, wurden vergeben. Sei es, dass Polanski den Ball nicht unter Kontrolle, Herdling ihn nicht an den Mann bringen oder Casteels ihn gleich ins Aus oder zum Gegner schoss. Richtig rund lief es nur noch zwei Mal.
Beim zweiten Mal scheiterte Volland beim Versuch eines Beinschusses des Gästetorwarts, aber da stand es ja auch schon 3:0.
Nach einer sehr schönen Kombination zwischen Volland und Firmino schoss Beck (!) aus wenigen Metern flach in die Tormitte (!). (Allein diese mit (!) gekennzeichneten Sachverhalte offenbaren, was für ein Spiel und was für ein Gegner das war.)
In den letzten 10 Minuten des Spiels gab es noch ein paar Wechsel, aber sonst keine Veränderungen. Dann war Schluss und der erste Zu-Null-Sieg der Saison eingefahren.
Wertvolle drei Punkte gegen den Abstieg, denn auch wenn wir in der Tabelle auf Platz 10 stehen, sind es immer noch weniger Punkte bis zum Relegationsplatz (6) als bis zu Platz 9 (7).
Nein, wahrlich, von so einem Spiel und so einem in allen Belangen deutlichen Sieg war nicht auszugehen. Und das müsste doch eigentlich nach der Herberger’schen Heuristik zu einem ausverkauften Haus führen. Etwas über 25.000 Besucher sahen dieses Spiel live – und darunter nicht wenige Getreuen des Liga-Dinos. Also scheint auch an seiner Theorie was nicht zu stimmen, wobei man ihm aber zugutehalten muss, dass er diese These ja in der Frühphase des Fernsehens entwickelte.
Das bunteste Medium damals war das Radio, denn das gab es in verschiedenen Dekoren. Und „Beromünster“ leuchtete wahlweise orange oder grün. Alles andere war wie das Wappen unseres nächsten, bestimmt wesentlich unangenehmer zu spielenden Gegners: schwarz-weiß.
Und auch wenn sich der Trainer wieder zu einer Umstellung in der Aufstellung entscheiden sollte, entscheidend wird sein, dass die Einstellung stimmt.
Vielleicht kommen dann auch mehr Zuschauer, aus welchen Gründen auch immer. Die großen Namen hatten wir diese Saison schon zu Gast. Nur das nächste Heimspiel wird noch ein relativer Selbstläufer. Dann zieht im Grunde nur die Mannschaft selbst. Also hat sie jetzt noch insgesamt drei Chancen, sich zu empfehlen.
Dabei empfiehlt es sich, sich auch zu überlegen, was Fußball ist und ursprünglich war. Fußball ist ein Mannschaftssport und Kampfspiel, auch wenn es im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr athletische Komponenten erfahren und dadurch sowie durch Regeländerungen Elemente des Kampfes eingebüßt hat.
Hm, dessen eingedenk muten zwar Floskeln wie „Gras fressen“ und „Blut schwitzen“ extrem anachronistisch an, aber irgendwie … tief drin … ist das Faszinierende vielleicht doch das Atavistische, dass es in all seinen und mit ihm verbundenen Gefühlen, Gedanken, Handlungen etc. einem früheren, primitiven Stadium der Menschheit entspricht.
Vielleicht ist Fußball aber einfach nur in den Grenzen von Raum und Zeit und meist außerhalb der eigenen unmittelbaren Lebenswirklichkeit, mehr als jeder andere Sport in der Welt einfach nichts anderes als
„Schicksal in Action“.
Nehme es seinen Lauf und wir es in die Hand. Hat ja gestern auch geklappt. – Und außerdem haben wir seit dem 11. Spieltag in der Saison 2009/10 nicht mehr im Breisgau gewonnen. Wird also höchste Zeit …
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sehr sehr sehr schön, mir gefällt am besten: Ästhetik-Klausel und die Entkreidung der Mittellinie, aber auch vieles mehr, eigentlich fast der ganze Text, nur die letzten 3 Absätze, ab „Hm“ hätten Sie weglassen können, da fällt der geistreiche Wortzauber ab, finde ich. Ein großes Danke! :-), ach ja: „Da paarte sich die Erleichterung ob des Nichteintretens des Befürchteten mit der Freude ob des Eingetretenen des Erhofften“ , ist herrlich unnötig ausgedehnt fabuliert! Klasse! So ein Satz paßt einfach in keine SMS und die NSA kann ihn ohne gesonderten Arbeitskreis so schnell nicht entschlüsseln, so funktioniert Wehr gegen Abhören!
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