FC Schalke 04 vs. 1899 Hoffenheim
Verärgerung.
Über die Massen. Über die Maßen.
Die preußische Beschwerdeordnung war das erste, was einem nach dem Schlusspfiff einfiel. Diese auch „militärische Nacht“ genannte Regelung schreibt vor, sich über Missstände erst am Folgetag zu äußern. Eine sehr weise Vorgabe, denn vieles sieht, nachdem man eine Nacht darüber geschlafen hat, nicht anders aus, aber das Emotionale hat sich relativiert.
Und gerade bei solchen Ereignissen, die man in Massen wahrnimmt, wie einem Fußballspiel, empfiehlt es sich ganz besonders, diesen Brauch zu beherzigen, denn zu groß ist die Gefahr, sich von denen in der Masse generierten und kumulierten Gefühle leiten und, noch schlimmer, verleiten zu lassen, das Falsche zu tun – und das ist letztlich immer destruktivistisch.
——– LESEHILFE: HIER KOMMT JETZT EIN EINSCHUB ZUM PHÄNOMEN „MASSE“ ——–
Nicht uninteressant dabei ist ja auch der Umstand, dass sich diese Zerstörungswut auch gegen das richtet, was man, ist man bei Sinnen, zu den Dingen zählt, die man schätzt, mag oder gar liebt.
Diese Phänomene sind jetzt nichts Neues. Und es ist nicht ohne Witz, dass einer der ersten Menschen, die dieses meist wenig gute Phänomen untersucht haben, Gustave Le Bon heißt.
- Wesen, Funktion und Bewertung der Masse:
- Eine Masse ist grundsätzlich impulsiv, beweglich, irritierbar, suggestibel, leichtgläubig, besessen von übertriebenen und genialen Ideen, intolerant und diktatorisch.
- Massen transportieren vor allem Ideen und kulturelle Ziele, die jedoch nur von den Wenigen realisiert werden, die von der Masse Distanz halten können.
- Moderne Massen sind vor allem durch einen schrankenlosen Egoismus charakterisiert, der Zerfall und geistig unfruchtbare Pöbelherrschaft mit sich bringt.
- Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit:
- Die Mitglieder einer Masse büßen die Kritikfähigkeit ein, die sie als Individuen haben. Ihre Persönlichkeit schwindet.
- Die Masse kann Persönliches nicht von Sachlichem unterscheiden.
- Sie erliegt leicht Suggestionen, deren Wirkung der Hypnose vergleichbar ist, und wird hysterisch; sie ist leicht lenkbar.
- Intelligenz, Emotionalität und Einseitigkeit:
- Die Masse ist nur wenig intelligent.
- Sie denkt einseitig grob und undifferenziert im Guten wie im Bösen.
- Die Masse ist leicht erregbar, leichtgläubig und sprunghaft. Ihre Emotionalität ist schlicht.
- Urteile, Handlungen und Überzeugungen der Masse:
- Die Masse ist im Allgemeinen sehr konservativ.
- Die moralischen Urteile einer Masse sind unabhängig von der Herkunft oder dem Intellekt ihrer Mitglieder.
- Die Masse urteilt durch vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelfällen.
(Quelle und weitere Beispiele)
Auf Fußball oder gar das Fanwesen bezogen sich seine Werke nicht. (Sie erschienen in Frankreich einige Jahre vor der Gründung der TSG Hoffenheim und in Deutschland in den Anfangsjahren der Weimarer Republik.) Aber sie lassen sich darauf beziehen.
1960 verfasste der spätere Nobelpreisträger Elias Canetti sein Werk „Masse und Macht“, in der er sogar von einer „Zerstörungssucht“ spricht und diese als die auffälligste Eigenschaft einer Masse bezeichnet, die das Andere vernichten wolle, um ihr eigenes Überleben zu sichern.
——– LESEHILFE: HIER KOMMT JETZT WAS ZUM PHÄNOMEN „FAN“ ——–
So gesehen muss man sich beim Fußballfan fragen, wer oder was das Andere ist – und ob man die preußische Beschwerdeordnung bei manchen nicht auf einen Monat ausdehnen soll.
Fangen wir mit den Fans der Gäste an, die wenig warm an diesem schönen Frühlingstag empfangen wurden. Die Willkommenstransparente machten der eigenen Mannschaft weniger Mut als vielmehr der eigenen Unmut Luft, u.a. „Versager“.
Wir hingegen waren da doch wesentlich positiver und freudvoller gestimmt (also die, die drin waren. Die meisten Fans, die mit den Bussen anreisten, steckten lange im Stau fest und kamen erst, als das Drama seinen Lauf genommen hatte, was vielleicht auch ganz gut war. (s.o.)).
Denn trotz einer bisher nicht gerade überzeugenden Rückrunde bestand die Chance, durch einen Sieg an den Schalkern vorbeizuziehen und damit seit gefühlten Jahrhunderten mal wieder auf einem Platz zu stehen, der einen zur Teilnahme an einem europäischen Wettbewerb berechtigen würde.
Da war natürlich die Hoffnung groß – und ebenso die Enttäuschung, dass es nicht geklappt hat, wobei dann doch Zeitpunkt, Ziel und Intensität der Frustkommunikation besonders überraschte – wie auch deren Agitatoren.
Es muss für einige etwas hochgradig Kompensatorisches haben, sich über die mangelnde Fitness, Laufbereitschaft, Sprungkraft und Gelenkigkeit eines Fußballers aus den eigenen Reihen hochgradig verachtend auszulassen und dies auch noch mit Inbrunst zu tun, wenn man auf seinem Elektroroller sitzt und mit max. 25 km/h nach Hause zuckelt.
Als wohlwollender und mitfühlender Fan hat man mit solchen Menschen seine liebe Not. Aber Mitgefühl wird wohl eh überbewertet. Zumindest meint Canetti, dass es nicht die Empathie sei, die den Menschen charakterisiere, sondern die Furcht vor der Berührung anderer Menschen.
Auch wenn bezweifelt werden darf, dass Fußballfans bei Canetti überhaupt eine Rolle gespielt haben, gerade diese e-Senioren sind ein Beleg für seine These, dass der Mensch nur in der Masse seine Angst vor der Berührung verliere und dort der Verlust jeder Individualität als befreiender Akt betrachtet werde.
Da wird geblökt, gemeckert, beschimpft, verbal gekotzt mit einer Lautstärke und (sofern möglich) Körperlichkeit, dass es einen einerseits erschauert, andererseits sich selbst fragen lässt, ob man überhaupt Fan ist, schließlich will man auch in der Masse nicht unbedingt von Fremden berührt werden und seine Individualität wahren.
Ja, ist man. Trotzdem. Und vielleicht sogar noch mehr, weil man es nicht nur bei der Beobachtung des Misslingens belässt, sondern auch versucht, dies ursächlich zu ergründen, um dann daraus eine Möglichkeit zu entwickeln, damit sich daraus ein Gelingen entwickeln kann.
———————– LESEHILFE: GLEICH GEHT’S LOS MIT DEM SPIEL ———————–
Tor: Baumann
Abwehr: Beck, Bicakcic, Abraham, Kim
Mittelfeld: Rudy, Polanski, Firmino, Elyounoussi/Amiri
Angriff: Volland, Modeste
Nein, das war nicht die Startelf. Ist eher eine Wunschelf verbunden mit dem Wunsch der Kontinuität. Es gibt immer wieder verletzungs- oder strafenbedingt Änderungen in der Aufstellung, aber prinzipiell hat sich das Rotieren in der Vergangenheit nicht wirklich ausgezahlt.
Diesmal war es der plötzliche Ausfall Rudys, der eine Umstellung in der gedachten Startaufstellung nötig machte – und dabei griff der Trainer daneben.
———————– LESEHILFE: ANPFIFF ———————–
Ein Matchplan ist wie ein Hefeteig – manchmal geht er nicht auf.
Anfänglich sah das ganz gut aus. Diesmal sah es nicht so aus, als ob wir den Anfang verschlafen würden. Zwar hatte der Gegner schnell beste Chancen, aber wir hatten auch ganz gute, so dass das Ganze ganz nach unserem Geschmack war, bis, ja bis man merkte, dass der Biss fehlte, die Zuordnung, der Zugriff.
Die Chancen der Schalker zu Anfang des Spiels stellten sich nicht als unglückliche Verläufe heraus, sondern eben als ein Fehler in den Zutaten, die zu sowohl Klumpigkeit und Zähigkeit, aber auch Großporigkeit führte.
Es war erschreckend, wie wenig nach zehn Minuten bei uns ging – und wie wenig einige von uns liefen. Vor allem in der Rückwärtsbewegung war das ein Dilemma, der Rückstand die logische Folge.
Als zwei unserer Verteidiger die Flanke von rechts nicht verhindern konnten, was immer mal passieren kann, erreichte der Ball den völlig ungedeckten Schalker, was nicht passieren darf. Leider traf er den Ball perfekt. 1:0.
Weit und breit war niemand, der ihn am Schuss hinderte, was kein Vorwurf an die Abwehr ist, sondern an den Rest. Allen voran die Schweizer Schwegler und Zuber arbeiteten nach hinten wenig. Und wo wir gerade bei der Alpen- und Skination sind: Unser Trainer hatte sich wohl, was Aufstellung und Taktik angeht, das falsche Material für die Umstände gewählt, die unsere Mannschaft daran hinderten, in Schwung zu kommen. Oder um wieder mal eine Metapher aus einem anderen Sport zu nutzen: Er hatte sich verwachst.
Unsere Spieler kamen in fast keinen Zweikampf und wenn, dann zu spät, was auch in diesem Spiel dazu führte, dass einer unserer Abwehrspieler, diesmal Strobl, sehr früh, mit Gelb verwarnt wurde.
In den letzten Spielen war das ja Kim, aber er kam diesmal ohne Verwarnung aus, dafür aber kaum einen Ball an den eigenen Mann, dennoch dafür kein Fett weg von den „Fans“ – ganz im Gegensatz zu Modeste, der noch beim Stand von 0:0 die beste Chance der TSG in der ersten Halbzeit hatte, die allerdings auf einem Querschläger der Schalker Abwehr basierte. Seine Reaktion war gut und schnell, aber eben nicht gut genug, weil seine Motorik zu schnell war, so dass er den Ball nicht richtig traf, der daraufhin zwar in Richtung Tor rollte, aber so langsam, dass er problemlos vor der Linie zu klären war.
In der Sekunde waren die Hoffenheimer „Fans“ wohl froh. In Modeste schienen sie das gefunden zu haben, was ihnen zu finden das Wichtigste scheint: nein, nicht eine Lösung für ein Problem zur Verbesserung einer Situation, sondern einen Schuldigen.
Dabei konnte der arme Kerl nichts dafür. Wie gesagt, die Chance war ein Zufallsprodukt, aber immerhin der (fast) einzige Ball, der überhaupt in Richtung unseres Stürmers ging.
Die Freude bei vielen war dann auch groß, als er zur zweiten Halbzeit nicht mehr antrat. Mit Verwunderung wurde allerdings aufgenommen, dass an seiner Statt kein anderer Stürmer aufgestellt wurde, sondern Abraham.
Eine sehr nachvollziehbare Einwechslung, schließlich war Strobl als Innenverteidiger bereits verwarnt und die Schalker inzwischen 2:0 in Führung gegangen, nachdem wieder das Mittelfeld den Ball verlor, nicht nachsetzte, so dass die Hausherren leichtes Spiel hatten, den Konter zu Ende zu führen.
Auch das Zustandekommen dieses Tores war ein Fragezeichen mehr hinter der Frage, warum Modeste weichen musste und Zuber bleiben durfte. Und immer dann, wenn wir besonders kritisch sind mit Trainer oder Spieler, werden wir sehr oft Lügen gestraft, was uns ja freut, da sich das ja oft positiv auf das Spiel und damit auch nicht selten positiv auf das Ergebnis auswirkt – und genau so schien es auch diesmal zu sein.
Wie so oft in der Rückrunde waren wir in der 2. Halbzeit deutlich aggressiver, hatte mehr Ballgewinne, bessere Kombinationen und Chancen. Das ließ sich doch alles sehr gut an, dann aber nicht minder stark nach. Wieder ein Konter der Schalker, wieder über rechts, wieder rückt unser Mittelfeld, wieder Schwegler, nicht nach, wieder steht der Schalker Angreifer frei im Sechzehner, wieder nimmt er den Ball direkt, wieder kommt Baumann erst an in ran, als er ihn aus dem Netz holt.
3:0 – das war natürlich deutlich – wie auch die Aussagen des ein oder anderen zur Leistung der Mannschaft. Am krassesten fanden wir jedoch jene Aussage:
„Wenn isch dess vorhä gwussd hedd, hedd isch liwwa Konferenz geguggd!“
Was wohl Sepp Herberger dazu sagen würde, der ja ehedem meinte, die Leute gingen zum Fußball, weil sie nicht wüssten, wie es ausgeht?
Natürlich kann man sich wohlwollend denken, dass dies, zumal ohne Einhaltung des Gebots der preußischen Beschwerdeordnung, Ausdruck von Enttäuschung gewesen sei. Oder aber auch „Arschloch!“ Und Letzteres wäre so falsch und unverdient gar nicht gewesen, gemessen an der Scheiße, mit der er (und andere) die (eigene) Mannschaft verbal bewarf.
Wir spielten nicht gut, aber ja auch nicht gegen irgendwen. Der Gegner war an dem Tag einfach besser. Er hatte die bessere Taktik, die besseren Individualspieler, eine bessere Raumaufteilung, ein besseres Passspiel. Das kann passieren – und zum Glück weiß man es eben nicht vorher.
Und außerdem war da ja noch mehr drin. Als Volland den 1:3-Anschlusstreffer erzielte, war noch mehr Zeit auf der Uhr als vor einer Woche, als der Gastgeber in seinem letzten Spiel noch drei kassierte.
Kurz darauf kam Bicakcic einen Meter vor der Linie noch an den Ball, aber leider war er einen Tick zu langsam, so dass er den Ball nur noch in den netzfreien Bereich neben dem Pfosten setzen konnte.
Wir hatten also, und das sollte auch mal lobend erwähnt werden, nicht aufgegeben, durchaus Chancen und immerhin eine genutzt, die das Ergebnis insgesamt etwas freundlicher aussehen lässt, auch wenn die Enttäuschung natürlich groß war, dass wir es nicht geschafft haben, auf einen „Europa-Platz“ zu klettern.
(Aber noch schlimmer ist das Entsetzen über die beschriebenen „Fans“, die, und das ist fast noch erschreckender, da alle in einem sehr arrivierten Alter sind. Beobachtet die eigentlich wer? Macht sich wer, analog Hooligans, Ultras etc., Sorgen um deren Gedankengut, äh, nichts gut, um das, was sie verbal absondern?)
Jetzt sind wir halt wieder selbst verschuldet da, wo wir hingehören.
Best of Mittelfeld.
Das sah auch schon mal schlechter aus – und kann ja auch noch besser werden.
Tor: Baumann
Abwehr: Beck, Bicakcic, Abraham, Kim
Mittelfeld: Rudy, Polanski, Firmino, Elyounoussi/Amiri
Angriff: Volland, Modeste
🙂
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