1. FC Heidenheim 1846 vs. 1899 Hoffenheim
Das Basicó.
Ein Sieg mit Perspektive
Das war Bundesliga. Und damit potenziell auch Champions League. Und es war super.
Es war Tradition pur. Es war die Renaissance der Renaissance. Und die perfekte Paarung für ein solches Ereignis. Wir beantragen hiermit Namensrechte für „el/das Basicó“.
Während der mit 1,35 Milliarden Euro verschuldete FC Barcelona gerade das 99.354 Plätze fassende und in der Stadt befindliche Camp Nou in eine „hochmoderne Multifunktions-Arena“ umbauen lässt, und daher in dieser Saison seine Heimspiele, also auch das Clasicó, im etwas mehr als halb so großen, genauer: 55.926 Personen fassenden und auf dem 185 m hohen Stadtberg Montjuïc befindlichen und im eklektizistischen Architekturstil, also einer Mischung mehrerer Elemente früherer historischer Stile gehaltenen Estadi Olímpic austrägt, wofür der Verein aus der 1,62 Millionen Einwohner großen Stadt einen zusätzlichen Kredit über 1,45 Milliarden aufgenommen hat, spielt der 1. FC Heidenheim 1846 auf dem Schlossberg in 555 m ü. NN. in der zuletzt 2014 für etwas unter 21 Millionen Euro ausgebauten Voith-Arena statt, deren Architekturstil ebenfalls als eklektizistisch bezeichnet werden kann, wenngleich weniger im klassischen Sinne als vielmehr im postkreativen Industriefunktionsbau, obwohl gerade für uns der Hauch der Renaissance unverkennbar war.
Herrlich.
Das ist keine Architektur. Das ist Kunst.
Schaut man sich ganz, ganz früher Werke der Menschheit an, erkennt man sofort die mangelnde Räumlichkeit im Bild. Aufbauend auf der christlich-philosophischen Licht-Metaphysik entwickelte sich eine rein flächige Darstellungsweise. Die Bilder entstanden jetzt aus der Linie heraus – die von Linien gebildeten Flächen waren gleichwertig. Der Verlust jeglicher Räumlichkeit führte zur prinzipiellen Vereinheitlichung von Figur und Grund.
Es waren die Duccio di Buoninsegna (1255-1318) sowie Giotto die Bondone (1267-1337) (Es besteht kein direkter Zusammenhang mit den von aus besseren Cafés bekannten auf Kaffeetassenuntersetzern bekannten Haselnussbällchen gleichen Namens.), die das Konzept von „Figur und Grund“ in „Körper und Raum“ transformiert haben.
Dieses neu entwickelte Verfahren war imstande, prinzipiell jede beliebige, erdachte Wirklichkeit visuell zu konstruieren. Eine logozentrische Rationalität hat die (zweidimensionale) Repräsentationsfrage (des Raumes) als rationale Manier der Konstruktion definiert.
Dieser Wandel der wieder „sehbares Sehen“ in den Mittelpunkt rückte, brachte die qualitative Gleichbehandlung von Figur und Raum mit sich. Diese Gleichbehandlung setzte eine Vorstellung von der Gleichheit des Dargestellten voraus, und die Idee einer geometrisierbaren Wirklichkeit führte zur Erfindung eines mathematisch begründbaren Konstruktionsverfahrens – durch den heute aus jedem Kunstunterricht, sofern es den noch gibt, bekannten Fluchtpunkt.
Aufbauend auf diesem einen Fluchtpunkt, der das Pendant des Augenpunktes des Betrachters war, konnte ein allgemeines Konstruktionsverfahren erstellt werden, das mit Grund- und Aufrisszeichnung jeden beliebigen Raum konstruierbar machte. Und Alberti war es schließlich, der mit seinem „Trattato della pittura“ (Traktat über die Malerei, 1436) die mathematisch theoretisch exakte Herleitung des Sehpyramidendurchschnitts verallgemeinerte.
Da Gemälde immer zweidimensional sind, gelingt es also dank Alberti nicht nur sprachlich, sondern auch bildlich, Netzer aus der Tiefe des Raumes kommen zu lassen, sprich: Dreidimensionalität zu suggerieren, also etwas zu schaffen, was zwar real ist, aber medial nicht real dargestellt werden kann. Die Illusion von Wirklichkeit ward geboren.
In der Kunst. Nicht auf der Ostalb.
Alles war und ist die Wahrwerdung der feuchten Träume aller Fußball-Romantiker und -Traditionalisten. Und passend dazu und auf dass es nicht bei einer durch Humidität begleitete, im Schlaf auftretende Abfolge von Vorstellungen, Bildern, Ereignissen, Erlebnissen bzw. ein alles andere als arider (trockener) sehnlicher, unerfüllter Wunsch blieb, öffneten sich mit der Eröffnung der Stadiontore auch die Wolken.
Regen.
Gibt es im Wesentlichen als drei Formen – und wir meinen das nicht metereologisch. Es gibt es als reines Substantiv, als reflexives Verb und als flektiertes Adjektiv – und man konnte es bei diesem Spiel – auch das passt perfekt zu „basicó“ – in all seinen Formen erleben.
Nicht den Regen an sich. Der ergoss sich über die ganze Spielzeit konstant aus einer diffus grauen, dunklen Wolkenschicht, die die Sonne unsichtbar machte.
Dieser Nimbostratus änderte sich erst nach Spielende in einen Altostratus, grau-bläuliche Wolkenfelder von streifigem, faserigem oder einförmigem Aussehen, die den Himmel ganz oder teilweise bedecken und stellenweise so dünn sind, dass die Sonne wenigstens schwach wie durch Mattglas zu erkennen ist, der aus dem teilweise starken Regen (> 15mm in 90 Minuten) während des Spiels einen leichten Sprühregen (< 0,15mm in 90 Minuten) beim Rückweg zum Auto, das wir im Tal auf den kostenlos zur Verfügung stehenden Parkplätzen des Hauptsponsors abstellten, werden ließ.
Doch es war nicht nur der Regen, der unsere Mannschaft wie begossene Pudel aussehen ließ. Der Wille zum Regen war zwar beiden Mannschaften anzumerken, doch die Gastgeber regten sich deutlich mehr auf dem Spielfeld, während wir uns auf den Rängen mehr und mehr erst auf- und erregten ob des Spiels unseres Teams.
Immerhin hatte man zu keinem Moment den Eindruck, dass die Mannschaft den Gegner nicht ernst nahm oder gar unterschätzte, aber sie unternahm nichts, um die hochmotivierten Hausherren ernsthaft in ihre Grenzen zu weisen. Dazu hätte es einer Abkehr des Verhaltens aus der Abwehr bedurft, doch diese agierte statt mit gepflegtem Kurzpass- und kontrolliertem Aufbauspiel, was bei den Witterungsbedingungen natürlich so einfach nicht war, permanent mit langen Dreschbällen von Baumann. Ein Mittelfeldspiel fand nicht statt, dafür fand sich Weghorst oft allein in Behauptungssituationen gegen zwei, drei Gegenspieler, in denen er selten als Sieger hervorging. Und wenn er den Ball mal festmachen und weiterleiten konnte, hat ihn Bebou verstolpert.
Viel mehr Möglichkeiten blieben unserem holländischen Hünen auch nicht, weil die linke Bahn offensiv meist unbesetzt blieb. Die Defensivspieler taten auch gut daran, sich nicht allzu weit von ihrem Primärterrain zu entfernen, da die Gastgeber flink auf den Flügeln waren. Und die fußball-neudeutschen Schienenspieler (Matarazzo: „wing backs“, wir: Mittelläufer) waren fast immer zu zentral, sprich – um im Bild zu bleiben – nie auf dem richtigen Gleis.
Eine besonders unglückliche Figur gab dabei Bülter ab, der vorne ohne Wirkung und hinten einiges schuldig blieb und dann noch einen Elfmeter verschuldete. Zum Glück konnte Baumann den noch halten, aber kurze Zeit später zeigte der Schiedsrichter wieder auf den Punkt.
Zu unserem großen Entsetzen wurde der aber zurückgenommen, da das ihm zugrunde liegende Foul außerhalb des Strafraums lag. „Scheiße. Bei Freistößen sind sie besonders gefährlich.“ entfuhr es akademischem Mund und zur großen Überraschung sollte die Aussage zutreffen. Der Mann, der eben noch den Elfer verschoss, traf. Höchst sehenswert.
Und während der Nimbostratus sich weiter Abregnen konnte, war bei uns an ein abregen nicht zu denken. Zu wenig kam als Gegenwehr. Der Ballbesitz nahm zwar zu, aber die Spielkontrolle nicht und erst recht nicht die Entwicklung von Chancen. Der Ansatz war gewiss da und auch ein Einsatz fehlte es nicht, aber der Durchsatz, wie man in mehreren Fachgebieten die Menge an Werkstoffen, Daten oder Informationen bezeichnet, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes in einem System von einem Ort zu einem anderen Ort transportiert werden.
So war zwar Bebou inzwischen mehr am Ball, aber immer noch nicht im Spiel. Zu oft verlor er grundlos den Ball, so dass Kaderabek, der seiner Art gemäß die Lok auf der Außenbahn gab und damit seine Funktion als Schienenspieler erfüllte, aber ohne Ball nicht wirklich was bewirken konnte. Und auf der anderen Seite hatte zu dem Zeitpunkt noch niemand die Weichen gestellt, so dass es auf der linken Seite über die komplette erste Hälfte hinweg nicht einen einzigen Einfall gab, sondern sie ein einziger Ausfall war.
Dummerweise wurde das Spiel unserer Mannschaft in der zweiten Halbzeit etwas besser, was auch an den Auswechslungen in der 53. Minute lag (Skov für Bülter, Vogt für Brooks), aber das Ergebnis nicht. Nach 58 Minuten stand es 2:0 für die Hausherren und wieder aus einer Standardsituation heraus.
Diesmal war es eine Ecke und wieder stimmte die Zuordnung nicht, was aus mehreren Gründen befremdlich stimmte. Dass Standards DIE Stärke des Aufsteigers sind ward schon auf der Pressekonferenz erwähnt, also im Vorfeld erkannt – und obwohl bekannt und die Box defensiv von uns (eigentlich sehr) gut besetzt, waren zwei Spieler der Hausherren frei im Fünfer. Einer bekam den Ball dann auf den Schädel und wir den nächsten Ball in die Maschen. Was machen wir nun?
Geschichte.
- Am 10. Februar 2008 drehte die TSG das Spiel zu Hause im Dietmar-Hopp-Stadion das erste Heimspiel der Rückrunde unserer einzigen Zweiligasaison gegen den späteren Mitaufsteiger (und 2.Liga-Meister 2007/08) Borussia Mönchengladbach nach 0:2 zur Halbzeit durch Teber (2x), Copado und Ba in ein 4:2.
- Am 19. September 2009 gewann die TSG erneut nach 0:2-Rückstand (nach 17 Minuten) erneut 4:2 (Salihovic 22.), Maicosuel (86.), Obasi (89.) und erneut Ba (90.+1) erneut gegen, aber diesmal bei Borussia Mönchengladbach.
- Fast auf den Tag genau acht Jahre später, am 20. September 2017 drehte die TSG beim Mittwochabend-Flutlichtspielspiel beim FSV Mainz 05 wieder ein 0:2 (nach 16 Minuten) durch Amiri (23.), Wagner (45. +1) sowie Uth (90. +2) in einen Sieg.
- Wieder an einem Mittwoch und wieder gegen Borussia Mönchengladbach, es war der 21. April 2021, gelang es der TSG erneut einen 0:2-Rückstand zur Halbzeit in einen Sieg, und wieder in ein 3:2 zu verwandeln. Dies gelang diesmal aber nicht erst in allerletzter Sekunde, dafür schnell. Zwischen der 48. und 65. Minute sorgten Kramaric, Bebou und wieder Kramaric durch ihre Tore nicht nur für den Sieg am 30. Spieltag, sondern den vorzeitigen Klassenerhalt.(Es folgten zwei 1:1 (gegen Freiburg und Bielefeld) sowie zwei Siege (gegen Schalke und Hertha BSC. (Wer hier noch liest, sieht hier (große) Namen, die man dieses Jahr – und nach dem aktuellen Stand der Dinge auch nächstes Jahr) nicht in der Bundesliga liest.))
Ein 0:2 in einen Sieg zu drehen, gab es also schon, aber noch lagen wir zu so einem späten Zeitpunkt mit zwei Toren und zurück und noch nie gelang uns die Wende so schnell.
Waren die 17 Minuten ehedem in Mainz schon schnell und mit dem Siegtreffer in der Nachspielzeit sowohl dramatisch als auch glücklich, waren es diesmal sogar nur 15 Minuten, insgesamt sehr glücklich und mit dem Siegtreffer zum Ende der regulären Spielzeit durch den doppelt auszuführenden Elfmeter, aber nicht zuletzt auch der Riesengroßmegachance der Hausherren zum Ausgleich in der Tiefe der Nachspielzeit, die erst Baumann als Krake und dann Vogt auf der Linie verteidigte, noch dramatischer. Akademische Smartwatches zeigten Pulse im gut dreistelligen Bereich an.
Der Regen fiel weiter. Und Heidenheim regte sich auch weiter, aber wir hatten uns inzwischen wohl akklimatisiert und trugen unsererseits unseren Teil zu einem regen Finale dieser Premiere auf der Ostalb bei.
Grüne 20, 14 sowie rote 5 und 6 (und damit sind nicht, obwohl sie man das meinen könnte, Schulnoten gemeint) waren aber die Anzeigen, die sich als besonders smart erweisen sollten. Als dann noch aus der 9 eine 39 auf dem Platz wurde, kippte das Spiel.
Die Gäste mussten ihrem Aufwand Tribut zollen – und zwei nur allzu menschlichen Fehlern, die auch sehr gut zu Schwaben passen: Sparsamkeit und Sicherheit respektive Kontrolle.
Während wir inzwischen fünf frische Spieler auf dem Platz hatten, waren bei Heidenheim elf Mann platt. Zwar reagierte der Alte-Hase-Trainer des Bundesliganeulings sofort und wechselte unmittelbar nach unserem Anschlusstreffer durch Beier doppelt, aber sie bekamen keinen Zugriff mehr, dafür zwei Minuten später den Ausgleich.
Die TSG hatte endlich die Weichen auf Sieg gestellt. Inzwischen war auch links besetzt. Beide Treffer fielen über die Seite, die zuvor gänzlich verwaist war. Dadurch wurde das Spiel breiter, die Defensive der Hausherren konnte weniger kompakt stehen, dafür entstanden Lücken und in die stieß eben erst Beier und dann Kaderabek, der einen Schuss Beckers, der erst unglücklich am Pfosten, dann aber sehr glücklich am Rücken deren Torhüters landete, nur noch über die Linie schieben musste und dies auch recht frei tun konnte, da die sonst so wache Heidenheimer Abwehr müde war.
Und auch das Foulspiel, das dem Elfmeter vorausging, entstand über die linke Seite und wieder über Beier. Wie bereits bei dem Elfmeter gegen uns, war es der Kölner Keller, der sich auf der Schwäbischen Alb im Ohr des wahrscheinlich ersten Schiedsrichters in 60 Jahren Bundesliga, der seinen Namen auf der Bandenwerbung ums Spielfeld lesen durfte, aber das Stammhaus der älteste deutschen Verbandstofffabrik (Hartmann AG) ist halt nun mal in Heidenheim a. d. Brenz.
Er gab ihn, stellte sich hin, so auch Kramaric, der nach einer Weile anlief, wie gewohnt verzögerte und einnetzte. Jubel, Trubel, Pfeifendeckel. Der Schiedsrichter ließ wiederholen, da er den Ball noch nicht freigegeben habe. Davon war nicht auszugehen, da er gut und gerne schon fünf Sekunden auf seiner Position stand. Aber er bestand darauf: Wiederholung.
Nun war der Torhüter ja gewarnt. Es war klar, dass er nicht mehr so früh zu erkennen geben würde, in welche Ecke er gedenkt abzutauchen. Kramaric lief wieder an, verzögerte diesmal aber nicht, was den Torhüter derart irritierte, dass er sich dann doch mehr so halbherzig bei der Ballberührung für ein Eck entschied. Doch Krama machte den Panenka – und hatte Glück. Wir hatten Glück. Wir führten. Wir drehten das Spiel – und auf den Rängen fast durch.
Das Spiel war nicht schön. Das Wetter war lausig. Der Sieg nicht verdient. Aber eingefahren. Was sich positiv auf unsere Laune niederschlug.
Und so sind wir dann, zumal auch der Niederschlag nachließ, letztlich zufrieden heimgefahren – und freuten uns einfach über den Ausgang. Und dass Heidenheim den Eingang in die Bundesliga gefunden hat. Und dass uns sowie unserem Dorfverein die Ehre zuteil wurde, Premierenpartner dieser Renaissance im Fußball gewesen sein zu dürfen. Das war gestern Fußball von heute wie früher. Nicht unbedingt ein Spiel, aber ein Sieg mit Perspektive. Das kann und das wird das Team mit Sicherheit das tun, was man mit Sicherheit auch hauptsächlich bei diesem architektonischen Kleinod von Stadion tat: zusammenschweißen.
Vielleicht und alles andere als ausgeschlossen waren wir hier nicht nur Zeuge der Renaissance der Funktionalität in der Gebäudeerrichtung (Architektur ist das Stadion ja wahrlich nicht.), sondern auch der Renaissance einer Mannschaft mit Mentalität.
Ein Traum. Mehr als feucht. Nicht allein des Regens wegen … Ultrafein. Auch weil ultrasfrei. Wunderschön alles. So muss das sein. Mit uns.
Das Basicó!
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