1899 Hoffenheim vs. SC Freiburg
Ball ade
Ein verhexter Kick zur Walpurgisnacht
Die Deutschen argumentieren ja gerne mit Tradition. Im Fußball. In wohl allen anderen Lebensbereichen werden diese Rituale und Gewohnheiten der Altvorderen ja zumindest in Frage, eher in Zweifel gestellt, als antiquiert, anachronistisch, überholt angesehen.
„Alles neu!“ …
… hallt es gerne aus juvenilen Kehlen … und das findet dann auch seinen Widerhall in den Sozialen Medien. Das erhöht nicht zwangsläufig die Lautstärke, aber die Kakophonie. Und man überhört, dass es sich um gar nichts Neues handelt.
Ob das die 68er waren, die Emanzipationswelle, der Feminismus, die Anti-Atomkraftbewegung, die Friedensbewegung, die Selbstfindungssannyasin, deren Egotrip sie erst lange Jahre nach Poona, dann auf den Jakobsweg führte, der aber letzten Endes fast immer im Erbe einer Gründerzeitvilla in einem vornehmen Vorort oder Stadtteil sowie der Übernahme einer Kanzlei, Praxis oder den Eintritt in die Beamten“lauf“(?)bahn endete.
Ach ja, die Intoleranz in den 80er-Jahren gegenüber Lebensmodellen, die sich deutlich von der ebenfalls existierenden und die Gesellschaft dominierenden Bausparvertragsidylle abhoben, war auch weit geringer, als es heute ist, schenkte man den schrillen Stimmen einer abgehobenen Clique Glauben. Wir glauben das nicht.
Wir glauben aber auch nicht, dass früher alles besser war. Es war halt anders.
Elton John in seinen jungen Jahren, Amanda Lear, Romy Haag, Dragqueens, Culture Club, KajaGooGoo, Jesus Christ Superstar, Rocky Horror Pictrure Show, Freddie Mercury, KISS, The Tubes, Sex Pistols, Klaus Nomi, all das und noch viel, viel, sehr viel mehr war verquer, aber nicht verhasst.
Es war aber auch nicht „queer“, was aber nur daran lag, dass das Wort nicht benutzt wurde. Es war halt einfach da. Vielleicht ist es einfach so, dass wir mehr auf das ABC des Mit- als das LGBTQIA* des Gegeneinanders achteten – und unsere Eltern darauf, dass sie unser Gesabbel und Gedudel nicht so wichtig nahmen.
Andererseits scheint das einige unserer Generation so sehr gekränkt zu haben, dass sie das jetzt selbst Eltern bei ihren Blagen nicht wiederholen wollten – und nun haben wir die Plagegeister.
„Alles neu!“
Dem Ausruf haftet etwas Revolutionäres an. Aber käme es wirklich zu einer Revolution, dürfte kaum einer derer, die das fordern, haften wollen. Fordern hingegen wollen sie – und tun sie, die juvenilen Kehlen, verhaftet ganz im Hier und Jetzt, ohne an das Dort und Dann zu denken oder sich dessen gewahr zu sein, dass es das alles schon gab.
„Alles neu!
Und es gibt wohl kein besseres Wochenende als dieses, diesen Spruch zu thematisieren, denn gerade jetzt tönt er auch aus nicht nur aus mit Alkohol geölten Kehlen, wie wir als Traditionalisten und Romantiker wissen
„Alles neu“…
… ist ein romantisches Lied, das so ziemlich alles ist – nur nicht neu. Vor fast zwei Jahrhunderten, genauer: 1829, wurde es von Hermann Adam von Kamp verfasst – und es beginnt so:
„Alles neu macht der Mai,
macht die Seele frisch und frei.
Lasst das Haus!
Kommt hinaus!
Windet einen Strauß!
Rings erglänzen Sonnenschein,
duftend prangen Flur und Hain;
Vogelsang, Hörnerklang
tönt den Wald entlang.“
Diese Neuerungen sind also ein ganz natürlicher Vorgang, der einfach der Jahreszeit geschuldet ist und seit alters her gefeiert wird.
Spontan fällt einem da doch der „Tanz in den Mai“ ein. Doch das ist nur noch ein Begriff. Seine Bedeutung ging im Grunde verloren. Wohl zu viel Tradition mit dem Maibaumaufstellen – und -klauen –, der Zelebrierung der Zünfte und weiterem, aus Sicht der Lebensgestaltungsnovizen vermeintlichem, Zinnober. Aber will man sich wirklich von Menschen die Zukunft gestalten lassen, die ihre kulturelle Herkunft nicht kennen? Die nicht wissen, dass dieses Fest einen religiösen Ursprung hat?
Die Walpurgisnacht leitet sich von der heiligen Walburga ab, einer Äbtissin, die im 8. Jahrhundert in England lebte. Ihre Heiligsprechung rund 100 Jahre nach ihrem Tod erfolgte am 1. Mai durch Papst Hadrian II (um 870 n. Chr.), und sie verdankte sie zweier Wunder: So soll sie einmal ein Kind mit Hilfe dreier Ähren vor dem Verhungern gerettet und ein anderes Mal erfolgreich einen tollwütigen Hund beruhigt haben. Daher gilt sie neben vielerlei anderen Zuständigkeiten auch als Schutzheilige gegen Krankheiten und Seuchen, Tollwut, Hungersnot und Missernte.
Damit ist schon mal klar, dass sie unsere Schutzheilige nicht ist, so wenig Punkte, wie wir zuletzt geerntet haben.
Die mit der Walpurgisnacht immer wieder in Verbindung gebrachten Hexen sind eine literarische Erfindung, also nichts weiter als eine Erzählung, eine Mär. Da sie sich über nun viele Jahrhunderte gehalten hat, ist sie natürlich auch eine Tradition. Aber sie fußt, wie auch so manche Erzählung und Geschichte über Traditionsmannschaften und Fanrituale, auf einer Mär. Und da diese nicht wirklich groß sind, sind es nichts weiter als „Mär-chen“.
In Märchen spielen Zauberer und Zauberei eine sehr große Rolle. Das Märchenlexikon listet nicht weniger als 127 Zaubermärchen auf. Doch keine Sorge, diese wollen wir keiner Komplettexegese unterziehen. Viel lieber, als nicht nur Romantiker und Traditionalisten, sondern auch Klassiker bzw. Fan derselben sowie des Sturm und Drang, wollen wir uns lieber dem Zauberlehrling widmen.
„Alles neu!“ …
… dachte sich auch der, wie die einleitenden Worte aus Goethes gleichnamigem Gedicht dar- und klarstellen:
„Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
Merkt ich und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Tu ich Wunder auch.“
102 Jahre vor der Gründung des TV Hoffenheim, aus dem später dann unsere TSG hervorging, erblickte dieses Kunstwerk über die Selbstüberschätzung der Jugend das Licht der Welt. Zwar gelang es dem Zauberlehrling aus einem Besen einen Knecht zu schaffen, der Wasser schleppen muss, aber er wusste ihm nicht mehr Einhalt zu gebieten. Immerhin wusste er, wer ihm helfen kann:
Ach, da kommt der Meister!
„Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.“
Alles neu?
Man muss sich doch nur den Aufbau dieser Ballade anschauen, um vieles im Verhalten und Gebaren ja jeder Jugend wiederzuerkennen:
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- Überheblichkeit und Wichtigtuerei
- Umsetzung des Vorhabens
- Machtrausch
- Angst und Verzweiflung
- Hilfloses Schimpfen
- Verzweiflungstat und Verschlimmerung
- Hilferuf
- Rettung durch den Zaubermeister
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Ach ja, letzteren Punkt haben wir noch gar nicht erwähnt. Die gibt es nämlich, man möchte sagen: natürlich auch in dieser Ballade.
In die Ecke,
Besen, Besen!
Seids gewesen.
Denn als Geister
ruft euch nur
zu seinem Zwecke,
erst hervor
der alte Meister.
Ist es ein Zufall, dass die Rettung in der Struktur genau den Platz einnimmt, den die TSG aktuell in der Tabelle innehat? Gewiss, aber es ist ein sehr schöner, denn sie, die Rettung, tut Not. Nicht wegen der Niederlage gestern, sondern den Nichtsiegen der letzten Wochen, die dafür gesorgt haben, dass wir diese Saison höchstwahrscheinlich keinen europäischen Wettbewerb erreichen.
„Kommt da eigentlich noch was zum Spiel“, fragst du, geneigte/r Leser/in, zu Recht.
„Glaubt ihr, ihr erreicht was mit eurem Bildungsdünkelgewäsch und -geschwätz?“
Keine unberechtigte Frage, auf die wir aber gerne antworten: Ja, das glauben wir. Wir hoffen es zumindest. Aber sollten wir damit falsch liegen, ist es allein unser Problem. Wenn aber die Mannschaft ihre Ziele nicht erreicht, obwohl sie vor kurzem sich anschickte, diese zu übertreffen, dann ist es nicht nur das ihre. Wenn sie ihr potenzielles Leistungsniveau nicht erreicht, dann ist das ein ganz anderes Problem. Dann erreicht sie nicht nicht nur nichts, sie verliert auch. Deswegen wäre es so wichtig gewesen, wenn sie diese Saison zumindest die UEFA Conference League erreicht hätte. Und da sie diese (höchstwahrscheinlich) nicht erreicht, drängt sich die Frage auf: Erreicht der Trainer die Mannschaft?
Nach dem gestrigen Spiel muss man die Frage wohl bejahen.
+++ HALLO, SCROLLER, HIER BEGINNT DAS SPIEL … +++
Die Viererkette war eine ganz knuffige Idee und auch sonst trat die Mannschaft anders auf. Sie war kampfeslustig, engagiert, sie war das, was sie zuletzt nicht war: ein Kollektiv. Und auch auf dem Platz, während des Spiels wurden die Positionen immer wieder schön rotiert, so dass eigentlich immer Bewegung in unseren Reihen und damit auch in der Defensive der Gäste war.
Leider waren aber auch das der letzten Wochen – schludrig vorn und schludrig hinten. Kramaric vergab seine Riesenchance, als er passte statt schoss, und die Gäste schossen, als wir patzten. Wieder war es die erste Chance der Gäste, die zu deren Führung führte – und nicht das erste Mal, weil wir nicht in der Lage waren, einen Ball schlicht wegzudreschen.
Wieder kamen wir zurück. Wieder über links, wieder über Raum, ohne den wir in dieser Saison uns irgendwo bei Wolfsburg und Mönchengladbach wiedergefunden hätten, was sich vor der Saison gewiss besser gelesen hätte, und diesmal schoss Kramaric und diesmal traf er auch. Ausgleich. Schön herausgespielt und höchst verdient. Weitere Chancen wurden (wieder) kreiert, keine wurde (wieder) verwertet.
Dafür ging es nach der Pause gleich super los. Wieder über links, wieder über Raum, auf Kramaric, der wieder passte, aber diesmal so perfekt auf Stiller, der dann auch schnell schoss – und traf. Wieder mal ein Spiel gedreht. Hoffte man, jubelte man und schrie schenell auch „Mann, oh Mann“, denn im Gegenzug versammelten sich gefühlt zehn Hoffenheimer Feldspieler an der Eckfahne um den einen Freiburger am Ball, der diesen dann aber weitergab an einen völlig freistehenden Mitspieler, der diese (zweite Chance der Gäste) zum 2:2 nicht versemmelte.
Aber als ob der Gegentreffer im Gegenzug nach der Führung noch nicht der Gipfel der geist- und körperlosen Verteidigung war, kam es dann zur Führung der Gäste, die eine Minute drauf auch noch weiter erhöht wurde. Dass ein Gegner nach einem Freistoß von der Torauslinie frei zum Kopfball im Grunde auf der Torlinie kommen kann, ist prinzipiell völlig unverständlich. In der Situation kann man das prinzipiell streichen. Rudy steht (!) nebendran, springt nicht mal mit hoch. Man ist fassungslos. Naja, und das 2:4 war natürlich auch keine Meisterleistung von Vogt, wobei man immerhin zugeben muss, dass es die Ballannahme des Gegners war.
So seltsamer- wie erfreulicherweise gab unsere Mannschaft dann aber nicht auf. Vielmehr schien sie der Rückstand erneut anzustacheln und kam dann auch noch zum Anschlusstreffer und fast sogar noch in der Nachspielzeit zum Ausgleich. Aber es kam, wie die gesamte Reaktion in diesem Spiel nach den vergurkten Partien der letzten Wochen wie die meisten Züge der Bahn: zu spät.
Da war natürlich auch Pech dabei, denn wie bereits in der Vorwoche hielt der Gästetorwart unsere letzte Chance in letzter Sekunde und vereitelte damit unsere Teilnahme an einem europäischen Wettbewerb. Es ist wie verhext. Wären deren Reaktionen nicht gewesen, wir hätten vier Punkte mehr auf dem Konto. Und noch alle Chancen. Jetzt haben wir so gut wie keine mehr.
Und das Letzte, was wir dazu aufbieten können, ist auch nichts Neues, sondern ein alter Sponti-Spruch:
„Du hast keine Chance. Nutze sie!“
Und falls das nicht gelingen sollte, haben wir ja Zeit, uns auf die nächste Saison vorzubereiten und zwar nicht
alles neu,
aber sehr vieles in sehr vielem besser zu machen, u. a. Abwehr, Mittelfeld, medizinische Abteilung, Ab-, Auf- und vor allem Einstellung.
Die TSG in Europa? Das gibt es kein Vertun: Die Chance ist vertan. Schade, wäre so schön gewesen, es allen zu zeigen, dass „Die graue Maus TSG“ so viel mehr ist als eine Mär …
Mal sehen, wie der alte Hexenmeister das an- und wen er wie wofür einstellt. Oder in die Ecke. Oder beides. Denn der Schmerz ist groß, dass wir wieder im tabellarischen Niemandsland landen. Aber das hat ja leider bei uns auch was von Tradition. 🙁
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