1899 Hoffenheim vs. Holstein Kiel
Das Tier im Team
Menschen, Märchen und Mysterien
Seit vielen Jahrzehnten müht sich der Mensch, seine evolutionäre Herkunft zu ignorieren oder gar zu eliminieren. Er sieht seine Zukunft in der Selbstwahrnehmung bzw. öffentlichen Zurschaustellung als rein rationales Wesen.
(Dass im privaten Bereich hingegen immer wieder auf die emotionale Ebene abgehoben wird, lassen wir mal außen vor. Wir wollen ja nicht ausschweifend werden.)
Während also die Akzeptanz der eigenen Animalität abnimmt, nimmt die tierische Titulierung von sich im körperlichen Wettbewerb befindlichen Menschengruppen interessanterweise deutlich zu.
Am deutlichsten ist dies in Deutschland im Eishockey: Von den 15 Bundesliga-Teams hat nur ein Team keinen namentlichen Bezug ins Tierreich – und das trotz fettem Löwen im Logo.
Im Fußball ist dies immer noch rar. Zwar gibt es auch hier mehr und mehr Fauna-Referenzen, die sich meist am Spielfeldrand in Form von Maskottchen wiederfinden. In der eigenen Nomenklatur des Vereins gibt es sie noch nicht, aber sie werden halt gerne synonym verwandt. Diese Synonyme resultieren aus dem Namen der Stadt (Wolfsburg), dem Sponsor (Bullen), dem Logo (Adler; Geißbock) oder dem Spitznamen, die dem Verein verpasst wurden – entweder durch Journalisten (Fohlen) oder den Fans, womit wir beim gestrigen Gegner wären: der Kieler Sportvereinigung Holstein von 1900 e. V., kurz: die Störche.
Deren Namen habe nichts mit ihrer Spielkleidung zu tun, wie gerne kolportiert werde, sagt die Pressestelle des Vereins, sondern der Name leite sich vielmehr aus dem Namen der ersten Vereinskneipe ab: „Storchennest“. (Ein Name, der altgediente Kneipengänger Heidelbergs in Wehmut verfallen lässt.)
Aus Sicht der TSG Hoffenheim wäre es natürlich noch schöner gewesen, wenn der Name daherrühre, dass es dieses Tier ist, welches für Zuwachs im eigenen Haus sorgt. Doch dieses seit 1678 bekannte Motiv, wonach der Storch die Kinder bringt, bringt – ebenso bekannt – bei 1899 – und das nicht erst seit, aber ganz besonders in 2021 – nichts.
Woher kommt das? Nun, dafür gibt es verschiedene Ursachen. Viele haben auch mit Scham zu tun, weshalb man versucht, das Unaussprechliche symbolisch verständlich zu machen.
So wie heute jede/r versteht, was es bedeuten soll, wenn man in einem Film erst ein Paar in einem Liegewagen sieht, das sich womöglich körperlich näherkommt, und sich dann die Perspektive ändert – und man sieht nur noch den Zug, der in einen Tunnel fährt.
Nun sind Scham und Tabus weitaus älter als Filme, so dass man andere Metaphern in anderen Formen brauchte, am besten so, dass diese auch einem erzieherischen Zweck dienten.
Ganz hervorragend eigneten sich daher Märchen, da man hierüber Kinder erreichte und ihnen die Welt erklären konnte. So ist in vielen Märchen der Brunnen ein Symbol für das werdende neue Leben, vgl. „Der Froschkönig“. Das Fruchtwasser wird dabei durch das gewöhnliche Wasser symbolisiert, aus dem die Kinder bei der Geburt herausgezogen werden. (Ein bereits aus der Bibel bestens bekanntes Motiv, wo Moses als Kind von der Königstochter aus dem Nil gezogen und adoptiert und gesäugt wird.)
Überhaupt ist der Frosch das Gegenteil dessen, was eine Orange in der Filmreihe „Der Pate“ ist. Er kündigt neues Leben an, wie in „Schneewittchen“, oder ist – wie eben in „Der Froschkönig“ – selbst das neue Leben – von bildhaftem Eisprung über Schwangerschaft und Geburt bis hin zum Babysein, will und darf er ja im Schloss wohnen, vom Teller der Prinzessin essen und nach dem Essen von ihr ins Bett gebracht werden.
Natürlich brauchte es dazu Phantasie, aber die hatten die Menschen ehedem ohnehin mehr, schließlich hatten sie nur ihren Kopf, um die passen Bilder zur Geschichte entstehen zu lassen Heute gibt es fix und fertige „Stories“ von allen für alle und nichts Gutes oder eben einschlägige Portale, in denen jegliche Phantasie via optischer Großaufnahme zerstört wird.
Um wie viel anregender ist da doch, wenngleich auch da in puncto Größe enorm übertrieben wird, die mittelalterliche Umschreibung für einen Penis als „des Mannes Storch“. Von daher erklärt sich das Bild, dass der Storch der Mutter ins Bein gebissen habe. Der Storch zieht die Frösche aus dem Teich und frisst sie.
Dieses Bild kannten die Kinder aus ihrer Lebenswirklichkeit und wussten daher, dass dies (zumindest) wahr ist. Da er der Mutter angeblich ins Bein gebissen hat, legt sich nahe, dass er auch die Kinder bringt, die er aus der Lebensquelle geholt hat. Von Schlucken war ja nicht die Rede.
5 033 spuckte die Anzeigetafel als offizielle Zuschauerzahl aus. Da war das Geschrei groß. Auch auf den Rängen, denn da waren doch einige Kinder, die die TSG herzerfrischend forsch anfeuerten.
Mehr (virtuelles) Geschrei gab es auf den anderen einschlägigen Portalen, wo man seinen Unmut über den geringen Besuch zum Ausdruck brachte.
Entbehrt das nicht einer gewissen Komik, dass Leute, die zuhause am Rechner sitzen, sich darüber beschweren, dass zu wenige im Stadion seien? Beleidigen Sie sich damit nicht selbst?
Auf den Rängen hingegen gab es wenig Unmut – und auch auf dem Platz war kein Selbiger für Feigheit:
Nachdem die erste Großchance für die Gäste nach einem (erneut sinnlosen, weil durch Lethargie entstandenen) Ballverlust Rudys überstanden war, ging es nur noch nach vorn und – „Tor! Für unsere … T – S – G!“
Ja, ein Eigentor, aber das Zuspiel von Rutter, nach dessen grandioser Einzelleistung auf der linken Seite hätte Kramaric auch versenkt, stand er doch direkt hinter dem Torschützen.
Das Problem dieser sehr frühen Führung war allerdings, dass das Team sich sehr früh sehr sicher wähnte, so dass auch die Gäste immer wieder insbesondere über die linke Seite zu schönen Vorträgen kam, denen aber erfreulicherweise letztlich die Pointe fehlte. Zudem hatten wir auch die ein oder andere, sprich: viele Chancen, die wir aber ebenfalls nicht verwerten konnten. Insbesondere Dabbur tat sich da sehr hervur.
Doch was uns nicht und den Gästen nicht vor unserem Kasten gelang, gelang ihnen nach 30 Minuten vor dem ihren erneut: Sie brachten den Ball über die Linie.
Im Anschluss hatten wir weitere Chancen, aber schlicht niemanden, der in der Lage war, daraus was Zählbares zu machen. So blieb das Tornetz vor der Nordkurve bis nach dem Wechsel unberührt. Doch schon kurze Zeit nach Wiederanpfiff änderte sich das – und diesmal gelang den Gästen nicht nur wieder der erste Angriff, sondern auch den Ball wieder ins Tor zu bringen, diesmal aber zu ihren Gunsten.
Mit dem Mut im Abschluss kam es zum Anschluss, aber nicht zum leicht befürchteten Absturz unserer Mannschaft. Im Gegenteil: Sie verbiss sich geradezu am gegnerischen Sechzehner. Endlich schien sie ihrer Schlampigkeit im Spielaufbau selbst überdrüssig zu sein, spielte flüssig nach vorn und erspielte sich Chancen im Überfluss, dann kam einer unserer Stürmer (meist eben Dabbur) zum Schuss … Chancenschluss.
Aber endlich stimmte die Spielweise zum Anspruch der Fans an die Mannschaft und der Mannschaft an sich und das weist auch daraufhin, wie das Stadion wieder voller werden könnte:
Stimmt die Leistung überein mit dem Anspruch, stimmt es auch mit dem Zuspruch!
Es braucht halt auch Zuversicht, ergo keinen Un-, keinen Hoch-, ja, etwas An- und etwas De-, aber eigentlich nichts anderes als Mut. Den hatte Stiller bei seinem Fernschuss – und den hatte der Gästekeeper nicht. 3:1 – Da passierte nichts mehr.
Dachte man … und doch passierte dann etwas, woran kaum mehr wer glaubte: Dabbur traf doch noch ins Tor – und das auch nach einem höchst sehenswerten Doppeldoppelpass mit Skov. 4:1. Nicht weniger sehenswert war der 70-Meter-Sprint von Bruun Larsen mit Ball, den er auch herrlich einnetzte, womit wir nun in zwei Heimspielen hintereinander jeweils fünf Tore auf unserer Habenseite stehen hatten.
5:1 hieß es am Ende dieser Partie – wie auch jener am 27. September 2009 gegen den nächsten Gegner am Freitag. Das sind doch schon mal gute Omen, dass das Team endlich mal in eine Phase eintritt, wo man mit Lust und Freude am offensiven Spiel mehr gewinnt als „nur“ ein Spiel – und das ist nicht minder wichtig: die (Herzen der) Fans.
Die Hoffenheim-Hater freut es nur diebisch, dass wir die Hütte nicht vollkriegen. Uns aber freut es tierisch, wenn wir so viele Hütten machen. Da hat Kevin Vogt Recht mit seiner Aussage:
„Ich glaub‘, das ist auch das, was die Fans sehen wollen!“
Interessant ist das, was er davor sagte:
„Wir haben heute ein mutiges Spiel angeboten.“
Und das danach, war nicht weniger aufschlussreich:
„Wir haben versucht, so wenig lange Bälle wie möglich, sondern uns wirklich durchzukombinieren. (…) Ich glaub‘, dann kann man auch viele Chancen kreieren. Dann sieht das Spiel am Ende auch so aus, wie es aussah.“
Vor allem aber:
„Mutiger Fußball wird auf Sicht immer belohnt – und da sollten wir dranbleiben!“
Da brat‘ mir einer doch einen Storch! … Unser Verein, unser Team ist ja nun wirklich nicht gerade bekannt für seine Testosteronlastigkeit. Eher präsentiert Mann man sich nach außen hin als rational und abgeklärt, nüchtern und analytisch, fast schon un-menschlich, wenn man den homo sapiens sapiens in seiner Entität begreift, also inklusive seiner ihm – allen „sapiens“ (einsichtig, klug, verständig, weise) zum Trotz – innewohnenden Gefühle. Diese zeigt diese TSG modern ungern.
Doch das, was Vogt da sagt/zeigt, lässt darauf schließen, dass einem da was tierisch stinkt. Vielleicht seine Nichtnominierungen zuletzt, vielleicht ist es aber auch etwas anderes. So genau wissen wir das natürlich nicht, denn es war nicht sauber rauszuhören. Aber auch wenn er nicht wirklich gebrüllt hatte wie ein Löwe, war der Tritt nach dem Kick gegen die Störche vernehmbar …
„Nachtigall‘, ick hör dir trapsen“
Jetzt ist aber Schluss mit Vögeln. Schließlich wartet Freitag schon die alte Dame auf uns – und hoffentlich der nächste Dreier. Dann zwitschern wir uns einen …
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