1899 Hoffenheim vs. VfB Stuttgart
Scham
Der Sieg des schönen Spiels
Bereits Tage vor dem Spiel stand irgendwie das Thema des Spielberichts bereits fest. Er beruhte auf einem Wortspiel sowie dem Wandel der Zeit und damit einhergehend dem Verlust von Wissen.
Früher war Scham eine haarige Sache.
Ja, das war er auch schon, der Gag.
Das Problem mit Gags ist ja, dass man sie nicht erklären sollte, denn die Reaktion danach ist immer ein „Ah, ääh, ist ja doof …“
Aber vielleicht kann man ihn durch ein weiteres Wortspiel erklären:
„Das Gegenteil von „sich die Schamhaare wachsen lassen“ ist „sich die Schamhaare wachsen lassen“.“
Wer es noch plumper mag: Beliebte Gags aus den 1980ern von Fahrlehrern und Unteroffizieren funktionieren heute nicht mehr, da die heute 18-20jährigen Männer den „Gag“ (? – in den 80ern war es aus Sicht der Ausbilder einer) nicht verstünden, wenn zu Beginn der Fahrstunde der Herr rechts neben einem fragt: „Kriegste ihn rein oder soll ich erst Haare dran machen?“, wenn es einem nicht gelingt, den Sicherheitsgurt einrasten zu lassen, oder man als nato-oliver Frischling in sehr forschem Ton darauf hingewiesen wird: „Stillgestanden heißt stillgestanden. Da rührt sich kein Sackhaar mehr, selbst wenn der Himmel voller Fotzen hängt!“.
Nicht unsere Worte, sondern die vom Kasernenhof. Damals hat es zumindest die juvenile Jugend (m) belustigt, heute mag das den ein oder anderen in sehr jungen Jahren (m/w/d) beschämen.
Tja, wie gesagt, geschrieben, gescherzt: Früher war Scham eine haarige Sache.
Ist es aber heute immer noch, nur eben anders haarig.
Heute meint kaum noch wer die Geschlechtsorgane bzw. deren Bereich am Körper, wenn er/sie von „Scham“ spricht, sondern vor allem die negative Emotion, die entsteht, wenn man das Gefühl hat, gewissen Werten, Normen, Regeln oder Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein oder mit einem solchen Verhalten in Verbindung gebracht zu werden. Besonders interessant dabei ist für die Bewertung, dass Scham eine selbstbezogene Emotion ist, d. h. ob man sich für eine Situation schämt, obliegt letztlich ganz und gar allein der Bewertung des/der Einzelnen – auch wenn man gerne gesellschaftliche Zwänge oder „peer groups“ (Freundeskreise, Kolleginnen und Kollegen, Familie, „die Gesellschaft“) hierfür verantwortlich machen möchte. Letztlich entscheidet das Individuum, ob es überhaupt einem, und falls ja, welchem Druck es nachgibt.
Und wenn wer von „haarig“ spricht, ist auch nicht sofort klar, ob sich nun auf Masse und Dichte der Hornfäden bezieht, die auf der Haut von Säugetieren wachsen, oder sich auf Situationen bezieht, die Schwierig- und Unwägbarkeiten in sich bergen.
Wie gesagt, geschrieben, gescherzt: Früher war Scham eine haarige Sache.
Lässt das den Umkehrschluss zu? Ist Scham heute eine glatte Lüge?
Was sie – i. S. v. Schamgefühl – ist, ist Heuchelei. Und sie verkommt zu einem nicht nur sprachlichen Anhängsel, wodurch ein Verhalten ganz dezidiert moralisch diffamiert werden soll, z. B. Flugscham, Impfscham, Fleischscham.
Und dann gibt es natürlich noch das Gefühl, sich ob der Handlungen oder des Verhaltens einer oder mehrerer anderer Personen peinlich berührt zu fühlen:
die Fremdscham.
Und hiervon hatte die Partie gegen den VfB Stuttgart einiges in petto – und das weit mehr, als wir uns gewahr waren, als wir bereits Tage vor dem Spiel dachten, dass das Thema sich für die Rückbetrachtung zu dieser Partie eignen würde.
- Erster Anlass hierfür war die Information, dass das Stadion ausverkauft sein würde – „dank“ der Gästefans. Diese starteten eine konzertierte Aktion. Sobald der Vorverkauf für die Partie offiziell eröffnet ward, kauften sie sofort alles leer.Viele TSG-Fans sahen darin einen Grund zur Fremdscham dergestalt, dass es ein Ausdruck der Lethargie der Region sowie eines Desinteresses an dem Verein sei, dass den Nachbarn gelang. Letzteres ist leider nicht ganz von der Hand zu weisen, aber sich dafür zu schämen, weist auch latent narzisstische Züge auf, schließlich ist Scham – siehe oben – eine selbstbezügliche Emotion.
- Einen zweiten Anlass zur Fremdscham bot das Verhalten der Fans beider Lager.Die der Gäste benahmen sich (m/w/d) zum nicht geringen Teil auf einem Niveau, dem gegenüber das bekannte Verhalten von Pauschaltouristen auf dem Ballermann als zivilisiert zu bezeichnen wäre. Die Verbalinjurien, also Beleidigungen von Menschen, die ebenfalls nur ein Fußballspiel, aber die andere Mannschaft gewinnen sehen wollten, auf den Plätzen, im Umlauf und auch auf den Toiletten waren noch weitaus schlimmer als das Gebaren von obigen Touris, die sich außerhalb ihrer Heimat außerhalb jeglicher sozialer Norm verhielten, die sie für sich privat zuhause als Norm beanspruchen, z. B. durch ein Auftreten oben ohne. Auf dem Ballermann ohne (anständige) Kleidung, im Stadion ohne Anstand, genauer: Hirn.Die eigenen bewirkten das Gefühl der Fremdscham durch ihre dinglichen Anfeuerungen. Der stete Einsatz von Rauchbomben, Raketen aus Batterien, unendliche Bengalos und etliche Blinker zeugten nicht nur von einem stark pubertären Verhalten, insbesondere dem Verlangen, als „groß“ angesehen zu werden, sprich: Geltungsbedürfnis, sondern auch von der Annahme, sie seien wichtiger als der Verein, schließlich schaden sie ihm mit diesem Verhalten sehr. Das Geballer dürfte den Verein gut und gerne 50.000 € kosten – eher mehr. (Die Gästefans setzten auch massig Pyro ein, aber selbst deren Vieles war weniger als das Massenhafte der unseren.) Außerdem zerschossen sie damit jegliche andere Form der verbalen Anfeuerung. Sie haben sich einfach nur selbst inszeniert.Damit bewiesen sie (beide Lager) die Richtigkeit der Feststellung der Psychiaterin und Neurologin Heidi Kastner:
„Die Dummheit hat sich aufgehört zu schämen.“
Mit ihrem Verhalten erwiesen sie (vor allem die der TSG) dem Verein und vor allem Mannschaft einen Bärendienst, keinen Support oder gar Motivationsschub. Eher das Gegenteil … und damit wären wir beim dritten und vielleicht ärgsten Part der potenziellen Fremdscham:
- das Spiel unserer TSG.
Hierzu möchten wir vorab aus der 4. Auflage des Werks Micha Hilgers‘ „Scham. Gesichter eines Affekts.“ sowie der 1. Auflage von Thomas Bergners „Gefühle. Die Sprache des Selbst.“ zitieren:
„Sympathie und gefühlte Nähe zu einer als peinlich erlebten Person steigern die Fremdscham.“
„Fremdscham tritt auf, wenn eine andere Person Normen oder Werte verletzt und das selbst nicht merkt oder nicht als peinlich empfindet. Sie ist […] eine Form von Mitleid.“
Das hatten die Gäste mit uns erst ab der 60. Minute. Bis dahin war es ein sehr schönes Spiel, das nur einen Nachteil hatte: Es war erschütternd einseitig.
Manche verglichen es sogar mit dem Gelöbnis eines Schuldners auf Verlangen des Gläubigers, seine Vermögensverhältnisse korrekt dargelegt zu haben und seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen zu können – und auch das, nämlich ein Offenbarungseid, WAR einem Betroffenen mal peinlich. Man schämte sich dafür.
Heute? Gibt es nicht mal mehr den juristischen Begriff. Heute nennt man es „Versicherung an Eides statt“ oder „Vermögensauskunft“ – und die gab die TSG.
Unsere Spieler vermögen sehr wohl alle zu kicken und vielleicht mochte das Team auch viel, aber es vermochte, insbesondere in der ersten Halbzeit, nichts.
Man wunderte sich über den Zustand der Mannschaft, denn sie brachte wahrlich nichts zustande – und das kann nicht nur am Ausfall von Kabak und Brooks gelegen haben, zumal Jurasek und insbesondere Drexler in ihren Startelfdebüts eine gute Partie ablieferten, und Baumann mit einer Glanzleistung wohl trotz der drei Gegentore den Platz des 3. Keepers im EM-Aufgebot gesichert haben dürfte. Auch Tohumcu spielte ordentlich, wenngleich er auch viele Ballverluste hatte, aber er setzte immer nach. Zudem war er nicht primär für den Spielaufbau verantwortlich.
Es waren die erfahreneren Feldspieler, die erfahren haben, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Und sie übernahmen sich damit. Wenn ein Akpoguma, ein Grillitsch, ein Stach keinen Ball zum Mitspieler bringen, können diese auch nicht mitspielen. Wenn ein Weghorst keinen Fußball festmachen kann, kann auch man auch kein Fußballfest machen. Denn so bekommt man keinen Ball in die Offensive. Und wenn man keinen Ball in die Offensive bringt, muss man sich nicht wundern, wenn TSG-seitig nur auf den Rängen ein Feuerwerk abgebrannt wurde. Unser Team spielte nicht nur ohne, sondern aufgrund der unzähligen Fehlpässe im Spielaufbau mit dem Feuer. Entsprechend folgerichtig brannte es insbesondere im ersten Durchgang vor unserem Tor.
Als die Nachspielzeit angezeigt wurde, konnte man sich als Fan der TSG immerhin noch am Ergebnis erwärmen. Das 0:1 zu dem Zeitpunkt war das einzige Highlight aus unserer Sicht. Kurz zuvor gab es sogar ein kleines durch den ersten Torschuss aufs VfB-Tor durch Jurasek, doch kurz darauf und noch vor dem Halbzeitpfiff gab es das 0:2.
Was es aber nicht gab, waren Pfiffe – und auch das hatten wir den Gästen zu verdanken, denn was sie zeigten war einfach, beeindruckend und einfach beeindruckend, denn sie spielten hochgradig schlichten und schnellen Fußball. Mehr nicht. Und es ist wohl die Erkenntnis aus diesem Spiel (sowie dem des Tabellenführers, bei dem wir nach der Länderspielpause an Ostern zu Gast sind), dass die Essenz des Erfolgs die Reduktion von Komplexität ist.
Dabei geht es nicht nur um ein klares Passspiel und klare Laufwege, sondern auch deren Ermöglichung durch den / die Mitspieler. Anbieten, anbieten, anbieten – nicht verstecken (hinterm Gegenspieler), nicht weglaufen (ins Abseits), nicht anbiedern (ständiges Zurückpassen zum Torwart).
Selbiges gilt auch für den Verein als solches: Auch er muss (seinen Fans) anbieten, anbieten, anbieten, und sich nicht (bei irgendwelchen Stakeholdern oder Medien, Trends und Medientrends) anbiedern.
Die Souveränität, das Selbstbewusstsein fehlt auf allen Ebenen. Und gerne verfällt man dann ja aus gekränktem Stolz, schließlich findet man das, was man tut, ja gut, in Trotz. Das sorgt aber nur zur Verkrampfung. Und man neigt dann dazu, sich der falschen Werkzeuge zu bedienen.
Natürlich war der Gegner an diesem Spieltag ein dickes Brett – und das wird auch der des nächsten sein. Aber um das zu bohren, ist der Holzhammer völlig ungeeignet.
Es braucht Leichtigkeit, aber die wird heutzutage oftmals mit Seichtigkeit gleichgesetzt. Als brauche es immer noch ein besonderes Extra, um etwas extra Besonderes zu machen. Dabei reichen schon Hausaufgaben: anbieten, anbieten, anbieten. Passen und laufen. Dann passt das schon. Dann läuft das schon.
Im 2. Durchgang passte schon etwas mehr zusammen, und es lief auch etwas besser. Nsoki trug auch dazu bei, aber vor allem auch hier die Gäste, weil sie einfach einen Gang runterschalteten, ohne dabei die Kontrolle über Ball, Gegner und Spiel zu verlieren. Am Ende gewannen sie völlig ungefährdet und sehr verdient mit 0:3.
Erinnerungen wurden wach an eine Zeit, als wir so begeisternden Fußball spielten. Als unser Fußball sich mehr durch Herz denn Kopf auszeichnete, aber nicht kopflos spielten. Mit Köpfchen, das reichte schon.
Jetzt reicht es (mal wieder) den (Foren-)Fans – und es wird (wieder mal) die Trainerfrage gestellt. Keine Spielidee, keine Weiterentwicklung, kein attraktives Spiel. DAS ist schon arg zum Fremdschämen, denn das liest sich wie die Kopie all dessen, was man über Matarazzos Vorgänger über Monate hinweg schrieb – und der ist jetzt der Vater des Erfolgs beim VfB. Er war ja auch eine vermeintliche Ausgeburt der Unfähigkeit. Hmmm … Man könnte diese Fakten mal zum Ausgangspunkt der eigenen Reflexion nehmen, aber wie sagte Frau Dr. Kastner:
„Die Dummheit hat sich aufgehört zu schämen.“
Es wäre also dumm, sich anhand dieser Parameter für oder gegen irgendetwas zu entscheiden. Zumal damit der Verein ja immer unattraktiver wird – gerade für Übungsleiter. Ein solches Verhalten mag in Ordnung bzw. nachvollziehbar sein bei Teams, die seit Jahrzehnten unter den besten in ihren Ligen sind und auch regelmäßig in der Champions League gastieren und dort über die Gruppenphase hinauskommen (FC Barcelona, Real Madrid, Juventus Turin, PSG Paris, Manchester United), aber das sind wir nicht und werden wir – wie auch mindestens 85% der Teams in den nationalen und internationalen Ligen – nicht bis niemals sein.
Also sollten wir uns auch nicht so geben. Dafür unser Bestes. Und das – bezogen auf ein Einzelspiel – sahen wir am Samstag nicht.
Und insgesamt auch schon lange nicht mehr.
Der Fußball stieg vielen zu sehr zu Kopf – ja, da spielt auch viel Eitelkeit mit, aber damit hat ja niemand wirklich ein Problem im Fußball – oder verlor an Herz.
Insgesamt kommt der Kick der TSG einem extrem rational vor, was zweierlei Ursachen haben kann: eine gravierende Zunahme von Wissenschaftlichkeit bei gleichbleibender Emotionalität oder gleichbleibende Wissenschaftlichkeit bei wegfallender Emotionalität.
Natürlich spielt hierbei auch die Wirtschaftlichkeit eine nicht unwichtige Rolle. Wir werden Maxi Beier in Bälde verlieren, wir werden Tohumcu, Drexler und auch Moerstedt nicht ewig halten, und das ist alle kein Grund zum Groll, sondern Stolz. NUR: Das muss immer wieder von unten aufgefüllt werden und gleichzeitig muss die Möhre oben (1. Mannschaft) immer saftig aussehen. Und da zählen wir definitiv noch zu den Besten der Liga. Aber dazu braucht es natürlich Köpfchen, aber eben auch Herz. Verantwortliche, die mindestens so für den Erfolg des Vereins in allen Belangen so brennen wie die Bengalos der Fans auf den Rängen. Mit Herz gewinnt man zwar nicht jedes Spiel, aber die Herzen der Menschen der Region, die dann auch für die Mannschaft brennen und auch ins Stadion zum Anfeuern kommen – pyrofrei – und schneller als die Schwaben.
Und die sich auch dann ganz schamlos dazu bekennen, Fan der TSG zu sein.
Nach der Partie jetzt ist das schwer, aber die ist gespielt. Jetzt geht es wieder darum, Fußball zu spielen: einfach, beeindruckend und einfach beeindruckend.
Pause.
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