1899 Hoffenheim vs. Hertha BSC
Spielverständnis
Über eine großartige Vorstellung – und eine fehlende
Als was ist Fußball nicht schon alles bezeichnet worden? Unter selbsternannten Experten und Fußballfeuilletonisten wird am liebsten Bill Shankly zur Definition herangezogen, wonach zwar viele glaubten, im Fußball gehe es um Leben und Tod, er aber versichern könne, es ginge um viel mehr. Wer aber aufgrund seiner Klientel ein höheres Maß an Massenkompatibilität benötigt, tituliert den Sport schlicht als „die schönste Nebensache der Welt“.
Versuchen wir es mal ganz einfach: Fußball ist ein Spiel. Was aber ist ein Spiel?
Johan Huizinga, niederländischer Kulturanthropologe, definiert den Begriff in seinem bereits 1938 erschienenen Buch Homo ludens (Der spielende Mensch) als
„eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“
Immer noch unklar?
Ja, aber dafür gewiss auf einem viel höheren Niveau.
Außerdem bleibt die Frage: Was ist das „Ziel in sich“, was von diesem Gefühl der Spannung und Freude begleitet werden soll? Somit fehlt der Definition eine konkrete Darlegung des Immanenten.
Diese findet sich in den Grundlagen des Spiels, die der französische Philosophen Roger Caillois in seinem Werk Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch aufgeführt hat.
– Agon (Wettkampf)
– Alea (Zufall)
– Illinx (Rausch)
– Mimikry (Maskierung)
Und so langsam verdeutlicht sich das problem bei der bewertung dessen, was da auf dem Rasen vor sich ging. Es handelte sich nicht um ein Spiel, denn dazu fehlten 25, wenn nicht 50% der nötigen Grundlagen: Wettkampf und Zufall. Es war eine Vorstellung modernen Fußballs von Seiten der Hoffenheimer, während die Berliner keine Vorstellung vom Spiel an sich hatten. Von ihnen gab es kein agon, höchstens Agonie.
„Und ihr …“, fragten die Fans der Rhein-Neckar-Arena ab der 70. Minute skandierend, „wollt unsere Hauptstadt sein? Und ihr … wollt unsere Hauptstadt sein? Und ihr … wollt unsere Hauptstadt sein?“ Es war so unglaublich, dass das normale Repertoire an Fangesängen gar nicht ausreichte, um seine Be- und auch Verwunderung Ausdruck zu verleihen. Sogar Retrogesänge wie „Hi – Ha – Ho – Hertha ist K.O.“ wurden reanimiert.
Vielleicht war das der wahre Gewinn dieser Darbietung: Humor, Häme, Spott – elementare Bestandteile der Fankultur zogen in der RheiNeckArena ein. Und die wenigen Anhänger der Gastmannschaft zogen frühzeitig aus: Es war die geschlossenste Mannschaftleistung der Berliner – und zwar der Berliner Fans. Sie verließen 15 – 20 Minuten vor Schluss ihren Block und warteten vor dem Stadion nicht auf ihren, sondern vor deren Bus. Doch bis die Mannschaft das erleben musste, musste sie das „Spiel“ überleben. (Hatte Shankly doch recht?)
Es war sowohl eine Schande (ethisch aus Berliner Sicht) als auch eine Schändung (spielerisch aus Hoffenheimer Perspektive), was da auf dem Feld passierte. Es war so sehr Drama wie es auch keines war, denn es bestand mehr oder weniger aus 87 Minuten Fleddern, schließlich war die alte Dame schon nach drei Minuten tot.
Zu diesem Zeitpunkt lag Hertha bereits mit 2:0 hinten. Ibisevic erzielte nach rund 50 Sekunden sein erstes Tor, das schnellste Tor der laufenden Saison (da hatten wir noch nicht mal unsere Fahne wieder eingepackt), und keine drei Minuten später per Kopf sein zweites. (Da war unsere Fahnenschwenkerin noch nicht mal auf ihrem Platz. …. An dieser Stelle ein Lob auf uns und vor allem unsere Schriftführerin: Welcher andere Fanclub hat eine Frau in seinen Reihen, die zehn Minuten lang eine vier Meter-Stange mit ner Riesenfahne am oberen Ende schwenken kann? Prost! …. Ihr hat es übrigens sehr gut gefallen, so nah am Spielfeldrand zu sein. So erkannte sie sofort die Neuerungen an den Spielern: „Gugg mal, der Andi Beck war beim Friseur …!“ Einem Mann wäre das höchstens aufgefallen, wenn unsere Nr. 2 plötzlich grüne Haare gehabt hätte …)
Nach einer viertelstündigen Trainingseinheit „Passpiel, aber der Ball darf nur maximal zwei Mal berührt werden“, traf Ibisevic erneut per Kopf. Von 0 auf 100 in Form von drei Toren in kaum mehr als 20 Minuten, wir fragten uns, ob er sich gleich an die Spitze der Torjägerliste schießen will. Und ob die Berliner das Wesen des Spiels verstanden?
Zum Halbzeitpfiff der erste Schuss der Berliner in Form eines Freistoßes. Es scheint die verwundbartse Phase unserer Mannschaft zu sein, gerade gegen Mannschaften, die man eigentlich schon besigt hat. So war es im letzten Heimspiel gegen Bochum, als sie zum Schlusspunkt von Hälfte 1 aus der Ferne das Gehäuse trafen, so war es diesmal, als die Berliner aus der Ferne das Gehäuse trafen. Doch diesmal war es nicht die Latte und der Ball sprang auch nicht raus. Innenpfosten, drin, 3:1. Sollte es doch noch einmal spannend werden?
In der Halbzeitpause wurden die Hochrechnungen zur Bundestagswahl eingeblendet und rund 30.000 Menschen informiert, dass schwarz-rot ausgedient hat – interessanterweise die Farbkombination der Herthaner (mimikry). Dass es in Berlin nun schwarz-gelb würde, hat auch keinen wirklich interessiert, zu groß war die Begeisterung ob blau-weiß.
In der zweiten Hälfte gab es ansatzweise dann doch kurzzeitig Fußballversuche und Ansätze für ein Spiel.
Aber die Stürmer der Berliner, die sich wirklich (be-)mühten, waren mit ihrem Ansinnen recht allein. Zu statisch, lethargisch, einfalls- und herzlos agierte der Rest ihrer Mannschaft. Und auch unsere Jungs machen nicht mehr als nötig – und zwei Tore. Eines (Obasi), nachdem die Berliner Abwehr den Ball partout nicht haben wollte, und ein weiteres per Elfmeter (Eduardo) nach einem Foul an Ibisevic.
5:1 – der höchste Sieg in der ersten Liga. Da war natürlich die Freude groß. Aber irgendwie auch die Enttäuschung. Fußball macht nur dann Sinn und Spaß, wenn es beide Parteien als Spiel verstehen.
Andererseits: 3 Punkte, Platz 3. Nächste Woche Mainz.
Und, wenn es so gut weitergeht, warum nicht bald bald auch Manchester?
Submit a Comment