1899 Hoffenheim vs. Hamburger SV
Die Fehler der anderen
… garniert mit Federn von anderen
Es war (nicht) das beste aller Spiele, es war (nicht) das schlechteste aller Spiele, es war die Phase des Glaubens, es war die Phase des Unglaubens, es war das Spiel des Lichts, es war das Spiel der Finsternis, es war ein Aufkommen von Hoffnung, es war das Aufkommen von Verzweiflung, wir hatten alles vor uns, wir hatten gar nichts vor uns, wir alle kamen direkt auf die UEFA-Ränge, wir alle kamen direkt in die Relegation …
… äh, nein. Hier müssen wir den Vergleich mit einem der berühmtesten Buchanfänge der Weltliteratur[1] unterbrechen, denn, auch wenn es nie falsch ist, bei der TSG alles für möglich zu halten, ist diese Saison die Meisterschaft wahrscheinlicher als die Relegation. Das Ende des Anfangssatzes aus dem Jahre 1859 kann man interessanterweise 2025 dank der Sozialen Medien 1:1 übernehmen:
… kurz gesagt, die Zeit glich der heutigen so sehr, dass einige ihrer lautesten Autoritäten darauf bestanden, sie, ob zum Guten oder zum Schlechten, nur im Superlativ des Vergleichs hinzunehmen.“
Aber den Superlativ zur Partie 1899 Hoffenheim gegen den Hamburger SV hatten wir schon vergeben und superlativer geht nicht – auch nicht grammatikalisch (ähnlich: toter/totesten, alleiner/alleinsten, einziger/einzigsten.
2008 konstatierten wir „Das war nichts anderes als die beste Halbzeit im deutschen Fußball in diesem Jahrtausend.[2] – und daran hat sich bis heute nichts geändert, obwohl auch diese erste Hälfte wirklich beeindruckend war.
Die Ballsicherheit, die Passsicherheit, aber auch die Passschärfe passte einfach, obwohl wir nicht wirklich aufgrund unseres Spiels heraus zu Chancen kamen, sondern aufgrund der Fehler der Gästedefensive.
Prömel hatte laut sky mehr Platz als eine Studentenbude („34 Quadratmeter“) bei seinem Kopfball aus wenigen Metern zentral im Strafraum. Und dabei war es eine „blinde Flanke“ von Burger, die ihr eigentliches Ziel (Lemperle) verfehlte, doch der eigentliche Zielspieler zog alle Aufmerksamkeit auf sich und damit kam dann Prömel in die Situation, die wiederum – insbesondere seine Fangirls – an den Anfangssatz aus Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ erinnerte:
„Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein alleinstehender Mann, der ein beträchtliches Vermögen besitzt, einer Frau bedarf.
Der Gästetrainer würde dem streng widersprechen und bar des monetären Aspekts für einen Gegenspieler plädieren. Aber den gab’s nicht. So war Prömel in der Tat alleinstehend, und er bewies, dass Fußball auch Kopfsache ist.
Und wir machten weiter – und die Gäste auch. Wir Druck, sie Fehler im Abwehrzentrum. Nach 30 Minuten stand genau da Kabak, unser Mann fürs eigene Abwehrzentrum in deren (!), kam nach einer sehr schönen Kurzpassstafette an den Ball, legte sich diesen schön mit dem Außenrist vor und schon dachten die Reich-Ranickis unter uns an den ersten Satz aus Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“:
„Er stand vor dem Tor [des Tegeler Gefängnisses] und war frei.“
Doch während Franz Biberkopf, der Protagonist des Buches, damit so gar nicht klar kam, tat dies Ozan und lupfte ihn ein zur nie gefährdeten 2:0-Pausenführung.
Das allerdings scheint ein emotionaler Trugschluss zu sein – ganz im Sinne von Stephen Hawkings Behauptung, die er ganz an den Anfang von „Eine kurze Geschichte der Zeit“ stellt:
„Wir bewältigen unseren Alltag fast ohne das geringste Verständnis der Welt.“
Nun ist das Hauptproblem dabei, dass es k(aum )einen interessiert.
Wer wandelt wirklich auf Fausts Pfaden, der ja in lamoryantem Selbstmitleid in seinem berühmten Monolog zu Anfang von Goethes Werk konstatiert, der sich der Magie hingab, weil er sich fragte:
„Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Dass ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält.“
? – Okay, Immanuel Kant. Der große deutsche Vordenker der Aufklärung stellt im Vorwort zur Erstauflage seiner „Kritik der reinen Vernunft“ fest:
„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnis: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“
Kann der Mensch also wirklich dauerhaft „vernünftig“ sein? Liegt es in dieser Unfähigkeit des Menschen an sich, dass es der TSG in dieser ansonsten rational gesehen sehr vernünftigen Saison nicht gelingt, ein Spiel in Gänze vernünftig zu spielen?
Evidenzbasiert, also nach dem zu urteilen, was man in der ersten Hälfte sah, gab es keinen Grund, diese Frage überhaupt zu stellen, aber wie Kant feststellte, wird die Vernunft durch Fragen belästigt, die sie nicht abweisen kann – und auch das ist evidenzbasiert dergestalt, dass unsere Mannschaft in der Saison fast immer eine wesentlich bessere erste als zweite Halbzeit gespielt hat.
Und der Wiederbeginn der Partie bestätigte diese Furcht. Es dauerte gut eine Viertelstunde im zweiten Durchgang, dass die TSG zu alter Stärke zurückfand. So monströs, wie der Anfang von Mary Shellys „Frankenstein“
„Dr. Darwin und einige deutsche Physiologen würden das Ereignis, auf das diese Erzählung sich stützt, als undenkbar verweisen.“
War es jetzt nicht, aber es war auf jeden Fall ein Plus im Gegensatz zu den letzten Begegnungen, auch wenn diese zuletzt sehr positiv endeten – auch zuhause.
Denn diesmal nutzten wir auch einfach unsere Chancen, auch wenn wir sie nur bedingt herausspielten und sie meist erst durch Fehler der Gäste zu Großchancen wurden: Ward Prömel beim 1:0 sehr und Kabak beim 2:0 plötzlich sehr allein vor dem Tor, hatte Lemperle das Glück, dass sein Gegenspieler sich zu sehr auf ihn als auf den Ball konzentrierte. Bei seinem Versuch, unseren Stürmer wegzuchecken, rutschte er aus, so dass Lemperle keine Probleme hatte, den Ball mit der Picke dem Torwart durch die Beine über die Linie zu kicken. Und keine zehn Minuten später konnte die hanseatische Hintermannschaft keinen Profit daraus schlagen, dass sich Prass und Asllani erst nicht einig waren, wer den Ball nach Wiedergewinn weiter nach vorne treibt. Sie teilten sich auf, Prass, der für Touré kam, machte den Touré, umkurvte den Verteidiger, schob den Ball von der Torlinie perfekt in den Lauf des einlaufenden Asllani: 4:0.
Gerade der letzte Treffer stellte ein Novum dar: War es bisher in unserer Saison so, dass Ilzer kein „goldenes Händchen“ bei der Einwechslung hatte, bewies er mit der Hereinnahme von Prass und Asllani (für Touré bzw. Kramaric) gleich derer zwei.
Kramaric durfte also sein 300. Bundesligaspiel in der Startelf beginnen, und dass er es vorzeitig beenden musste war natürlich auch seiner Physis geschuldet. Er ist keine 25 mehr und das Spiel der TSG unter Ilzer ist physisch herausfordernd.
In der Laufleistungstabelle aller Bundesligamannschaften liegt die TSG mit 1727,8 km 31 Kilometer (also rd. 75% eines Marathons) vor dem letzten Heimspielgegner klar auf Platz 1. Und auch in der Partie rannte die Ilzer-Elf elf Kilometer mehr als der Gegner. Das ist nicht mehr Kramarics Spiel, was er aber zu wissen scheint, weshalb er diesmal erfreulich selten versuchte, den Ball zu halten und damit Tempo rauszunehmen.
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00 Bundesligaspiele als zentraler Feldspieler ist aufgrund der körperlichen Belastung sowie der höheren Gefahr von Verwarnungen und Verletzungen deutlich höher zu bewerten als Spiele eines Torwarts. Wer hätte gedacht, dass die (Not-)Leihe aus dem Januar 2016 sich derart entwickeln würde? Und nachdem er in dem Jahr dann mit Leicester City auch noch englischer Meister wurde, kam er ja fest zu uns. Leider konnte er gestern nicht sein 130. Bundesligator erzielen, aber mannschaftsdienlich wie er ist, dürfte ihn das nach dem Sieg auch nur wenig kümmern.
Natürlich weißt du, geneigte/r Leser/in, welcher Spieler mehr Bundesligaspiele für die TSG Hoffenheim absolviert hat, auch wenn es keine 502 sind. Unser Kapitän absolvierte gestern sein 372. Spiel für uns. Aber weißt du, welcher Spieler aus dem jetzigen Kader die drittmeisten Spiele für die TSG gemacht hat? Fußnote 🙂[3]
Aber während der zwei goldene Händchen hatte, behielt einer leider wieder keine weiße Weste. Den Hamburgern gelang noch der Anschlusstreffer nach einem Konter, aber nicht mehr – trotz Elfmeter. Doch der Schuss des Torschützen des Anschlusstreffers landete im Hintertorauffangnetz, weil er selbst auf dem Hintern landete. Es passte irgendwie zu der Partie, wo sich die Gäste ja einige individuelle Ausrutscher leisteten, was irgendwie auch Leo Toltois Anfang von „Anna Karenina“ passt:
„Alle glücklichen Familien sind gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“
Ja, die TSG-Familie hatte nach diesem Spiel sehr gut lachen. Und musste sich eigentlich auch haben, denn so positiv wie es spielerisch aussah, war es faktisch nicht. Zwar rannten wir mehr und hatten auch mit 59% deutlich mehr Ballbesitz, aber laut Zahlenwerk des kicker hatten die Gäste 14 Torschüsse, wir lediglich 10 und der „expected goals“-Wert der Gäste war ebenfalls höher als der unsrige: 1,38:1,31.
Aber wir wollen nicht meckern. Platz 5 in der Liga. Und noch steht ja eine Partie dieses Jahr aus. Und wäre schön, wenn uns das Spiel beim VfB Stuttgart am Ende an den schönsten ersten Satz der deutschsprachigen Literatur erinnern würde – aus Günter Grass‘ „Der Butt“. Zu dem wurde 2007 von einer Jury gewählt:
„Ilsebill salzte nach.“
—-
[1] Im Original lautet er:
It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to Heaven, we were all going direct the other way–in short, the period was so far like the present period, that some of its noisiest authorities insisted on its being received, for good or for evil, in the superlative degree of comparison only.
(“A Tale of Two Cities, Charles Dickens)(„Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten, es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Torheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens, es war die Zeit des Lichts, es war die Zeit der Finsternis, es war der Frühling der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung, wir hatten alles vor uns, wir hatten gar nichts vor uns, wir alle kamen direkt in den Himmel, wir alle kamen direkt auf die andere Seite – kurz gesagt, die Zeit glich der heutigen so sehr, dass einige ihrer lautesten Autoritäten darauf bestanden, sie, ob zum Guten oder zum Schlechten, nur im Superlativ des Vergleichs hinzunehmen.“
(“Eine Geschichte aus zwei Städten”, Charles Dickens)
[2] Quelle: https://akademikerfanclub.de/1899-hoffenheim-vs-hamburger-sv
[3] Kevin Akpoguma (169),
gefolgt von Ihlas Bebou (153), Ozan Kabak (64), Grischa Prömel (62) und Umut Tohumcu (46)
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Achtung – hier kommt der Klugscheißer:
Wie heißt der Prömel mit Vornamen? Na??
Ansonsten: Wie immer treffend analysiert!

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