RB Leipzig vs. 1899 Hoffenheim
El Táktico
Schade statt Schande
Heutzutage ist nahezu allen nahezu alles verfügbar. Das hat den großen Nachteil, dass nahezu alle wissen, dass nahezu alle glauben, sich um nahezu alles kümmern zu müssen, weshalb nahezu alle mutmaßen, nahezu alles sagen zu dürfen. Noch schlimmer: Sie haben damit nahezu vollumfänglich Recht ––– Gott sei Dank nicht im juristischen Sinne.
Verantwortlich für dieses Irr- wie Hochgefühl sind in erster Linie die vermeintlich Sozialen Medien. Sie sorgen für die Verbreitung von Informationen jedweder Art, was einerseits gut ist (gerade aus/in Krisengebieten oder Ländern ohne freie Presse), andererseits nicht (gerade aus/in Wohlstandsgebieten oder Milieus mit großer Fresse).
Wahre Originalität ist dabei selten zu entdecken. Meist handelt es sich dabei um Trittbrettfahrerei, indem man etwas Etabliertes modifiziert, wodurch es einem dann gelingt, die Warhol’sche Prognose der viertelstündigen Berühmtheit zu erlangen.
„El Clásico“ ist so ein etablierter Terminus. Zumindest in Europa[i]. Jeder weiß, dass damit das Spiel zwischen Real Madrid und FC Barcelona gemeint ist. (Was vielleicht nicht jeder weiß: Dieses Aufeinandertreffen gibt es sowohl am morgigen Mittwoch (21.00 Uhr Landespokal, Rückspiel, Hinspiel endete 1:1) als auch am kommenden Samstag (20.45 Uhr, Liga, 26. Spieltag). Mehr noch: Dieser Begriff ist auch ein großartiges Marketing-Instrument, weshalb sich auch hierzulande Medien nicht zu schade waren, Duelle zwischen Bayern München und Borussia Dortmund zu titulieren mit „Der deutsche Clásico“.
Es gibt wohl kaum ein besseres Beispiel für die Oberflächlichkeit und mangelnde Kreativität, aber auch Überheblichkeit deutscher (Sport-)Journalisten als diesen Versuch, denn im Gegensatz zur gebührenfinanzierten Hybris wissen gebührenzahlende Fußballfans, dass dieser Begriff weit mehr bedeutet als ein Aufeinandertreffen der beiden erfolgreichsten Fußball-Mannschaften in Spanien der letzten Jahrzehnte.
Unbezahlte Medienleute, insbesondere Nutzer des vermeintlichen Nachrichtendienstes Twitter, nutzen diesen Terminus auch, und sind in der Nutzung des Terminus zwar nicht gut, aber schon deutlich besser im Sinne von „kreativer“, indem sie den Begriff klassisch linguistisch modifizieren.
Das kann durchaus auch mal lustig sein, wie im Falle „El Káckico“ zur Partie der aktuell Tabellenletzten. Der Gag hätte aber nicht gezündet, hätte es nicht zuvor die Adaption „El Plástico“ gegeben.
Der Terminus impliziert immerhin – wie das Original – eine über das Spiel hinausgehende Rivalität, auch wenn die in dem Falle systemischer Art ist. Die Nutzung dieses Begriffs selbst ist dennoch bloß simple Effekthascherei. Dass man auch ganz ohne diesen Terminus sogar geistreich Kritik äußern kann, zeigt dieser Tweet:
Aber im Gegensatz zu „El Káckiko“ vor allem aber zum Vorbild bietet er kein (kontinentales, nicht einmal nationales) Alleinstellungsmerkmal, da es von jenen Menschen auch zur Klassifizierung anderer Partien genutzt wird, in denen Mannschaften aufeinandertreffen, die zumindest gefühlt nicht spätestens seit dem Auseinanderfallen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der Bundesliga spielen.
Beliebigkeit ist aber ohnehin ein großes Thema – und Problem – in unserer Gesellschaft, allerdings nur bedingt auf den Plätzen der Bundesliga. Hier will man maximal wenig dem Zufall überlassen, was uns endlich zu dem Thema des gestrigen Tages bringt: Mark Hollis ist tot.
Nun gehört er nicht in die Liga der Ikonen der U-Musik, die in den letzten Jahren gestorben sind wie Larry Kilmister, Prince, David Bowie, Aretha Franklin etc., aber doch hat er der Nachwelt mit „Such a Shame“ (s. o.) nicht nur eines der Lieder hinterlassen, das, das auf keiner Ü30-Party fehlen darf und dessen Refrain völlig sinnfrei und ohne Ahnung des Kontextes mitgegröhlt wird[ii], sondern das auch ganz hervorragend zum gestrigen Spiel passt. (s. u.)
Es bezieht sich auf das Buch „Der Würfler“, das von George Cockcroft geschrieben und unter dem Pseudonym Luke Rhinehart 1971 veröffentlich wurde.
Dieser Luke ist der Ich-Erzähler der Geschichte, ein Psychiater, der von seinem Leben gelangweilt beginnt, Entscheidungen auf Grundlage eines Würfels zu treffen.
Was als Spaß begann, nahm Besitz von ihm. Schon sehr bald überlässt er sämtliche Lebensentscheidungen dem Würfel, u. a. Wie soll ich meine Patienten behandeln? Daraus entwickelt er dann die „Würfeltherapie“, bricht mit allem, was er hat, und widmet sich völlig der Verbreitung seiner Theorie, wobei er seine Entscheidungen ausschließlich durch den Würfel treffen lässt. Sie wird zu einer Art Kult mit gravierenden gesellschaftlichen Auswirkungen. Rhinehart wird zum Staatsfeind erklärt und ist als Folge ständig auf der Flucht.
Du, geneigte/r Leser/in, erkennst hier natürlich sofort die Parallelen zu den Sozialen Netzwerken, ihren Trollen, Fake News-Portalen, deinem Finanzberater und/oder Aktienanalysten (bekanntlich erzielen Affen mit Dartpfeilen mehr Gewinne[iii] als sie mit ihren Programmen) sowie der Widerspruch dieser Theorie nicht nur zur Aussage Einsteins „Gott würfelt nicht.“[iv], sondern auch der Arbeitsweise der beiden Trainer der gestrigen Partie.
Gestern trafen sie bereits zum 3. Mal in dieser Saison aufeinander – und nicht eine Partie davon war geprägt durch spielerischen Glanz oder virtuoses Spiel. Es war erneut ein Clash der Systeme, ein Leckerbissen für alle Freunde der Transformation von Strukturen vom Reißbrett aufs Spielfeld, oder um es sozialmedial neudeutsch zu sagen.
El Táktico
Die ersten beiden Partien haben wir verloren – und keine zu Unrecht. Nein, auch wenn die Tore letztlich jedes Mal Folge individueller Fehler waren, hatte der Gegner doch die um eine Idee bessere Spielanlage. Man kann sich vorstellen, dass dies Nagelsmann ganz besonders ärgerte, was ihn wiederum zusätzlich motiviert haben dürfte, denn für ihn ist es …
Such a shame to believe in escape
Wenn schon, dann die Flucht nach vorn – und das konnte man sowohl an der Aufstellung wie auch den Gesichtern der Spieler erkennen:
A life on every face
And that’s a change
Diesmal war es Nagelsmann, der Rangnick überraschte. Dabei wurden die Gastgeber vor allem durch einen Coup sehr aus dem geplanten Konzept gebracht bzw. fanden erst gar nicht dazu: Joelinton auf der 6 – wobei, …
‚Til I’m finally left with an eight
… – wir sind ja bekanntlich ahnungsfrei und meinungsstark: Zwar wurde „auf der 6“ gesagt, aber war das nicht eher eine 8, fast schon an eine 10 grenzend? Nach unserer laienhaften Erkenntis spielte er zumindest in den ersten 30 Minuten alle drei Positionen auf einmal, wofür er sich von uns Bestnoten verdient, was insgesamt zu einem Ergebnis führte, das Rhinehart gefallen würde: Denn die Addition seiner Positionen und der Bewertung (6+8+10+10) ergeben sein Rückennummer (34).
Rangnick ging es ja so, wie er auf der Pressekonferenz kundtat:
Tell me to relax, I just stare
Maybe I don’t know if I should change
A feeling that we share
It’s a shame
Erst nach seiner Umstellung via Zettel bekam sein Team uns und damit auch das Spiel besser in den Griff, wobei wir bis dahin beste Chancen durch schlampige Zuspiele kläglich vergeigten.
(Such a shame)
Number me with rage, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste (such a shame)
Dieser Zettel bzw. die Umstellung blieb natürlich nicht unbemerkt ….
This eagerness to change
It’s a shame
… was seinerseits zu einer Zettelhandreichung führte, so dass sich beide Mannschaften bis zur Halbzeit mehr oder weniger neutralisierten.
Die Frage, die sich das (Trainer-)Team in derselbigen stellte, war natürlich, wie die Hausherren nun weiterspielen würden:
The dice decide my fate
And that’s a shame
Es spricht für Nagelsmann, dass er schon Sekunden nach dem Wiederanpfiff erkannte, dass Leipzig in einer anderen Grundordnung spielte, als er vermutete, weshalb er bei der ersten Spielunterbrechung erneut entsprechende Anweisungen via Amiri ans Team gab, allerdings nicht handschriftlich:
In these trembling hands
My faith tells me to react, I don’t care
Maybe it’s unkind that I should change
A feeling that we share
It’s a shame
Diese Anweisungen hatten allerdings nicht mehr den gewünschten Erfolg.
(Such a shame)
Number me with rage, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste (such a shame)
Leipzig wurde immer stärker, sodass Nagelsmann andere Maßnahmen ergriff:
This eagerness to change
Bicakcic kam für Amiri. Eine sehr ungewöhnliche, weil eher defensive Einwechslung, womit klar war, dass das Konzept nun eher in Richtung enge Räume und weite Bälle ging. An sich ein guter und valider Plan, da RB immer höher stand, aber …
Such a shame
…. leider waren die Linienrichter nicht immer auf der Höhe weder des Balles noch ihres Könnens, denn jeder Versuch wurde fälschlicherweise wegen Abseits zurückgewinkt – sehr zu unserem Entsetzen …
Tell me to relax, I just stare
Maybe I don’t know if I should change
A feeling that we share
Immer dieser Brych …
It’s a shame
(Such a shame)
Auch die gelbe Karte für Kaderabek war wenig nachvollziehbar, was insofern ärgerlich ist, als dass er damit für das Samstagsspiel gegen die Eintracht gesperrt ist.
Man muss aber auch zugeben, dass wir außer diesen potenziellen Chancen nur noch eine große aus dem Spiel heraus hatten. Zwar war es richtig, dass Nagelsmann in der Folge Belfodil und den völlig ausgelaugten Joelinton vom Platz nahm, aber vielleicht wäre es besser gewesen, hätte er zuerst Nelson gebracht und dann Szalai, aber im Nachhinein ….
Number me with rage, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste
(Such a shame)
Write it across my name, it’s a shame
(Such a shame)
Number me in haste (such a shame)
In der 85. Minute fiel dann unglücklich, aber nicht unverdient der Ausgleich. Sehr, sehr schade.
Zugegeben, die Hausherren hatten in der Folge noch eine Riesenchance, aber es spricht für unsere Jungs, dass sie danach wieder etwas mutiger wurden und in den fünf Minuten der Nachspielzeit sich befreien konnten und ihr Heil wieder in der Offensive suchte.
This eagerness to change
Die letzte Aktion des Spiels gehörte uns. Leider vergaben wir den Eckball.
Such a shame [v]
Wieder gelang uns kein Sieg gegen eine Mannschaft über uns. Das zehnte Unentschieden der Saison dürfte wohl das endgültige Aus des Traumes Champions League bedeuten. Aber sicher ist nur: Nächsten Samstag geht es nach Frankfurt und dann (hoffentlich mit drei Punkten) zurück nach Hause – und gut gelaunt in die Kneipe.
Schließlich dürfte man pünktlich zum „El Clásico“ zurück sein …
Ende
[i] Im spanischsprachigen Mittel- und Südamerika ist dies anders, da El Clásico dort auch für andere Duelle steht – insbesondere jene zwischen Club América und Deportivo Guadalajara in Mexiko, Barcelona SC und CS Emelec in Ecuador sowie für das Stadtderby zwischen Boca Juniors und River Plate in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires (siehe Superclásico). Deshalb wird in diesen Ländern das Aufeinandertreffen von Real Madrid und dem FC Barcelona meist als El Derbi español bezeichnet. (Quelle)
[ii] Getoppt wird es wohl nur vom ein Jahr zuvor (1983) erschienenen „Vamos a la Playa“, das von den Auswirkungen der Verschmutzung des Mittelmeeres und den Folgen eines Atomkriegs handelt, also trotz allen belanglosen Italo-Disco-Sounds so mal null lustig ist. (Quelle)
[iii] Kam zumindest mehr als einmal vor, vgl. https://www.finanzen100.de/finanznachrichten/wirtschaft/wie-schimpansen-mit-dart-pfeilen-zu-den-besten-bankern-der-wall-street-wurden_H1960490147_546306/
[iv] Direkt so hat er nicht gesagt, aber durchaus sinngemäß, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Gott_w%C3%BCrfelt_nicht
[v] Eine Übersetzung des Songtextes mit weiterführenden Informationen gibt es hier.
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