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Akademikerfanclub 1899 Hoffenheim Rhein-Neckar Heidelberg 2007 e. V.

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FC St. Pauli vs. 1899 Hoffenheim

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Das T steht für Impro

Emergenz oder „emergency“?

In der Nähe von roten Laternen kann es schon mal sein, dass man pleite geht. Aber so?

Ne, ne, ne. Jetzt nicht nach Nagelsmann rufen. Erstens wird er niemanden von uns (er)hören, und zweitens stand der ja auch lange in der Kritik. Hauptsächlich dafür, dass er die Spieler mit seinen tausend Ideen überfordern würde. Sie wüssten gar nicht mehr, was sie wann wie genau zu tun hätten. Sie würden völlig überfordert, da er sie mit seinen Ideen völlig überfrachte. War es nicht so?

Ja, heute sagt man natürlich: „Das war ja nicht so gemeint.“

Heute ist man eher sprachlos. Was man sich  – und gewiss auch du, geneigte/r Leser/in – heute nach dem Kick auf dem Kiez aber fragt, ist: „Was war das?“

Nun, die einfache Antwort lautet: „Nix!“

Aber wir? Hier? Einfach? Ne, ne, ne. Hier gibt es immer mehr als „Nix“ – und wir meinen nicht „gar nix“.

Als Akademikerfanclub sehen wir es als unsere Aufgabe und Verantwortung an, aus jedem Spiel etwas Wissenswertes zu generieren, um über den Fußball mehr für sich aus der Welt der Wissenschaft, der Philosophie, Psychologie, Soziologie, Jurisprudenz, Theologie, Kunst und Kultur zu ziehen, damit man, damit DU, geneigte/r Leser/in, immer, auch wenn die Mannschaft verloren hat, etwas gewinnen kannst: eine neue, andere Sichtweise, vielleicht sogar ein oder zwei Erkenntnisse und/oder das ein oder andere Häppchen Wissen.

Also zurück zur Frage, die sich heute alle stellen:

„Was war das?“

Also, als alte Pädagogen wissen wir, dass es nichts bringt, einem einfach die Antwort zu sagen. Man kennt das aus dem Mathematikunterricht aus der Schule: Es gibt keine Punkte, wenn der Rechenweg fehlt. Richtige Lösung hin oder her.

Deswegen nehmen wir dich langsam mit – und wir gehen in eine ganz besondere Welt, die dich Menschen seit jeher schon interessiert, da man dort all die Sachen sehen, hören, erleben kann, die einem in seinem eigenen Leben verborgen oder auch verboten sind. Da wird geheuchelt (Okay, das machen alle mal und darf man auch in realiter) und gemeuchelt, da wird betrogen und getobt, gehurt und gemordet – und das zum Teil in den höchsten Tönen. Wir sind in der Welt, genau: des Theaters.

Das kennt man in der Regel als eine zuvor festgelegte Abfolge von Dialogen, Gängen, Bewegungen, Handlungen, also vordefinierten Szenen, zum Teil in Kombination mit meist unantastbaren Partituren. (Oper, Musical etc.)

So stellt man sich in gewisser Weise auch das Auftreten einer Fußballmannschaft vor: klare Kommunikation zwischen Akteuren, klare Zuordnungen auf dem Platz, Zusammenspiel der Team(mit)glieder und natürlich auch, dass Musik ist in dem Spiel auf den Halmen, die ihnen die Welt bedeuten (sollten).

Natürlich gibt es da auch einen Gegner, der sein eigenes Stück aufführen und sich dabei selbst inszenieren will, aber genau daraus zieht der Sport ja auch seinen Reiz.

(Eigentlich eine ganz interessante Idee auch fürs echte Theater: „Macbeth“ vs. „My fair lady“. Oder „Der gebrochene Krug“ vs. „Der eingebildete Kranke“, „Nabucco“ vs. „Nathan, der Weise. – Sollte dies ein/e Intendant/in lesen, bitte melden! Zurück …)

Mit diesem Spiel zeigte die TSG nun wohl endgültig, was für ein Revoluzzerclub sie doch ist und dass sie in ihrer langen Tradition der Traditionsbrüche nun auch mit der Vorstellung klassischen Vorstellungen gebrochen hat. Dabei orientiert sie sich ganz eindeutig an dem Ansatz von Gunter Lösel.

Er entwickelte seine, naja, nicht ganz eigene, aber doch revolutionäre Idee von Auftritten auf Bühnen.

Sie basiert darauf, dass jeder Mensch bereits alle wichtigen Eigenschaften wie Erzählen oder Spontanität in sich trägt.

– Tun wir doch alle, oder? Also hat er Recht, nicht?

Deshalb beschäftigt sich sein Ansatz damit nicht, sondern mit der Beseitigung von Widerständen, Abwehrmechanismen und Blockaden.

– Na? Da drängt sich doch eine Parallele zur (Defensive der) TSG geradezu kiezig, wenn nicht gar pornografisch auf, also vulgär evident?

Seinem Konzept nach entsteht das Spiel aus der Spontaneität und gegenseitigen Inspiration der Spieler. Der verneinende Intellekt weicht der Phantasie.

– Wozu Vorgaben? Ich kick, wie ich will, weil ich’s kann.

Die schöpferischen Quellen sind das Unbewusste, der Zufall …

– … wieder eine Parallele …

… sowie die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Er nennt das „Emergenz“ – und er sieht sie als Glücks-,…

– … nicht (wie wir) als Notfall (engl. „emergency“).

Zugegeben, die Möglichkeit besteht, und die TSG forciert diese, nicht zuletzt durch stete neue Startaufstellungen. Nur das Glücksgefühl will sich noch nicht so recht einstellen, zu unstet sind nicht nur die Formationen, sondern auch das Auftreten, die Leistungen.

Diesen Schwankungen in der Qualität könne man auf verschiedene Arten Herr werden, meint Herr Lösel. Dabei könne man sich an der Commedia dell’arte orientieren, die schwache Momente mit ihren „lazzi“, „tirate“ und „bravure“ überbrückte und wo das Ensemble half, wenn ein Darsteller nicht weiter wusste.

Das kann man den Spielern der TSG nicht absprechen. Sie helfen sich schon gegenseitig. Eben so gut es geht. Allerdings geht es selten gut.

Für Lösel ist das aber in Ordnung: Scheitern wird positiv gerahmt. Es gelte eine Ästhetik des Imperfekten zu pflegen.

Und die gedeiht bei der TSG zuletzt prächtig.

Lösel ist ein Vertreter und großer Befürworter dieser Kunstform. Und das, was die TSG am Millerntor zeigte, um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, war nichts anderes – als – Ende des „Rechenwegs“ (pädagogischen Gedankenspaziergangs) und damit Vorhang auf für die Antwort auf die Frage, was das war:

Improvisationstheater.

Man hatte zumindest nicht den Eindruck, als ob es da eine einzige Vorgabe seitens des Regisseurs gab. Gab es überhaupt einen Regisseur? Gab es denn ein Drehbuch?

Es gab zumindest bekannte Rahmenbedingungen:

  • nicht die beste Bühne, was den Untergrund angeht
  • die Beleuchtung ist auch nicht so, dass man permanent im Rampenlicht steht, und
  • das Publikum ist sehr, sehr klassisch, d. h. es schaut nicht einfach zu, sondern es bewegt sich ständig, ist unruhig, blökt rein bei sowohl Ge- als auch Missfallen und setzt auch mal Pyro ein, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das war am Freitag so am Millerntor, das war vor 200 Jahren so:

Zur Theaterrealität außerhalb des Hoftheaters des 18. und frühen 19. Jahrhundert gehörten offenbar das Schwätzen mit den Nachbarn und das Glücksspiel genauso zur Vorstellung wie der Bierausschank und der Tabakqualm. Kinder und Hunde wurden mit in die Vorstellung genommen. Laute Pfeifkonzerte während der Aufführungen waren genauso üblich wie der Blick oder Gang hinter die Kulissen. Noch im 19. Jahrhundert kämpften anscheinend die Gastronomen und die Prostituierten um ihr Gewerberecht mitten im Theatersaale.

Das Publikum nahm sein Recht auf Mitsprache, was Engagements und Rollenbesetzung angeht, in Anspruch, was bei Missachtung seitens der Theaterleitung mitunter zu regelrechten Theaterkrawallen führte. Es gab uniformierte Theaterwachen, die vom Militär abgestellt waren – eben zur Verhütung von Publikumskrawallen und Bränden. (Quelle)

Okay, bei den Hunden sind wir uns nicht sicher, aber ansonsten …

Ansonsten wurde das (Schau-)Spiel von den Hausherren diktiert, und die TSG hatte dem nichts entgegenzusetzen, ganz im Sinne Hösels. Demnach soll man sich ja für sein Spiel inspirieren lassen: unbewusst und zufällig. Und das tat die TSG ganz hervorragend. Selten so viel Zufall gesehen. Selten unsere Mannschaft so selten vor dem gegnerischen Tor. Der xGoals-Wert zur Halbzeit lag bei rekordverdächtigen: 0,04. Da dürfte der Anstoß miteingerechnet worden sein.

Nun war das, was die Gastgeber zeigten, auch nicht gerade hohe Kunst, so dass das Dargebotene gar nichts war: kein Lustspiel, keine Komödie, aber dank 0:0 auch weder Drama noch Tragödie. Es war einfach nur aus Sicht von Menschen, die sich am modernen Spiel und klassischen Darbietungen orientieren, scheiße schlecht.

Vielleicht sollte man auch wenigstens die Übertragungen dieser Champions League erwägen. Diese hat ja fast schon operettenhafte Züge, zumindest gleichen die Darbietungen auf der Bühne Musicals: Da ist Schwung drin, eine Szene jagt die andere, und in jeder ist eine kleines Kunstwerk zu erkennen. Da läuft alles perfekt. Natürlich gibt es da auch mal Szenen der Konfrontation, aber die werden meist spielerisch und immer weniger schauspielerisch (Neymar-Rolle) gelöst, oder auch mal Phasen, wo auf dem Rasen Ruhe einkehrt, aber auch nur, um dann mit doch mehr Verve die Bühne in ihrer gesamten Breite und Tiefe zu nutzen. Das will man sehen, weil es einfach gut aussieht, einen emotional berührt, fasziniert und trotz der Eintrittspreise an den Ort der Akte treibt. Bundesliga im Allgemeinen sowie das Spiel der TSG jetzt im Besonderen treibt einen in den Wahnsinn – und fort.

Tausende trieb es sogar in den hohen Norden: Der Gästebereich am Millerntor war ausverkauft! Selbstverständlich ist das bei der Spielansetzung, bei der Distanz und der Leistung nicht.

👏

Wir bitten um Szenenapplaus für die Mitgereisten.
(Bitte: Bleibt weg vom Hans-Albers-Platz. (s. o. „pleite gehen“))

Sie alle waren auch mächtig angefressen am Ende der zweiten Halbzeit (dennoch weg vom Hans-Albers-Platz), denn es blieb zwar beim : 0, aber trotzdem wurde es zur Tragödie durch einen Slapstick-Moment zwischen Baumann und Bischof mit einem dramatischen Schluss: dem Treffer für die Gastgeber, bei denen auch wenig rund lief, was aber nichts machte, denn sie hatten massig Ecken. Und nun drei Punkte mehr auf ihrem Konto, und wir nur noch einen Vorsprung vor ihnen.

Nach dem Treffer und insgesamt 75 Minuten Gekicke, eher: Gewürge schien unsere Mannschaft genug inspiriert und improvisierte sich dann auch mal in der gegnerischen Hälfte, sogar auch mal bis an den Strafraum, aber einen Schuss aufs Tor gaben wir das ganze Spiel über nicht ab.

Das war ein ganz beschämender Auftritt, aber halt auch nur ein weiterer Akt, der aber ganz gut passt zum Gesamtkunstwerk des Jubiläumsjahres, das ja mit einem Knall begann, irgendwer den Schuss nicht hörte, und seitdem wird sich durchlaviert und weiter improvisiert.

Inspirierende Aussichten sind das nicht gerade. Aber das große Finale kommt ja jetzt erst. Vielleicht wendet sich ja alles noch zum Guten. Vielleicht nicht. Niemand weiß es. Was wir wissen, ‘s ist

PAUSE!

 

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