1899 Hoffenheim vs. FC Augsburg
Die Kraft der Illusion
Seneca trübt die Freude
über den zweitbesten Saisonstart aller Zeiten
Was für ein faszinierendes Spiel. Vor allem die ersten 45 Minuten der Partie gegen den FC Augsburg ließen das Spiel fast zur Party werden. Zwar ging es nicht gleich mit Pauken und Trompeten los, doch dem Arpeggio des Intros spürte man schon den Willen zum Crescendo an.
Ein Arpeggio ist ein musikalischer Begriff für einen zerlegten Akkord, bei dem die einzelnen Töne nicht gleichzeitig, sondern nacheinander gespielt werden, also statt zum Beispiel auf dem Klavier die Tasten C – E – G zusammen zu spielen (C-Dur-Akkord) werden sie nacheinander angeschlagen.
Ein Arpeggio wird oft als Mittel für dynamische Steigerung eingesetzt. Wird dies immer lauter, wird es zu einem Crescendo. Spielt man es aber so, dass innerhalb die Töne in einer Oktave oder mehrere Töne in verschiedenen Oktaven derart gespielt werden, dass die unteren Töne leiser, während die oberen Töne lauter werden und die unterste Oktave wieder erklingt, sobald die höchste Oktave erreicht ist, spricht man vom sogenannten Shepard-Ton. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass der Ton ständig ansteigt, obwohl er sich eigentlich nur im Kreis dreht.
Den meisten Menschen dürfte dieser Shepard-Ton aus Computerspielen (z. B. Super Mario) bekannt sein. Filmnerds kennen ihn vor allem aus dem Film „Dunkirk“:
Die allermeisten Menschen kennen allerdings das optische Äquivalent des Shephard-Tons: die Penrose-Treppe, die vor allem durch den niederländischen Maler M. C. Escher bekannt wurde.

So war, zumindest wirkte es auch auf dem Spielfeld:
Die Abläufe waren immer gleich, doch sie wurden immer dichter, und obwohl sie immer dieselben Abläufe waren, erweckten sie den Eindruck der steten Steigerung. Und die Abläufe waren eine herrliche Mischung auf Zwei- und Dreidimensionalität, was wirklich sehr schön anzusehen war. Und nach zwölf Minuten wurde es auch akustisch.
Bis dahin war es still im Stadion, da die aktiven Fanszenen beschlossen haben, die ersten Minuten aus Protest zu schweigen gegen Pläne der Innenministerkonferenz bezüglich der Stadionsicherheit.
Es ist wenig überraschend, dass sich die allgemeinen Medien auf die Seite der aktiven Fanseite schmeißen, schließlich sind das einerseits potenzielle Nutzer-/Käufer*innen ihrer Angebote, andererseits liefern ja gerade die sogenannten aktiven Fanszenen ihnen Themen und vor allem Bilder mit ihren Bannern und Pyroaktionen, über die sich dann entweder amüsieren oder echauffieren können. Das will man sich natürlich erhalten.
Emotionale Meinungsäußerungen gibt es hierzu zuhauf. Von daher anbei eine sachliche juristische Einordnung.
Nachdem also diese Symbolaktion ihr Zeitliches segnete, kamen also auch die Dezibel ins Spiel, was insgesamt unserem Spiel gut tat. Zwar hatten wir im Spiel gegen das Team aus der Stadt mit dem bekanntesten deutschen Marionettentheater bis dahin bereits die Fäden in der Hand, aber richtig flüssig sah das noch nicht aus.
Aber mit den Schall- kamen auch die Angriffswellen. Da war auf einmal Tempo und Druck nicht nur auf Ball und Gegner, sondern auch auf deren Leibchen. Der härteste Härtetest fand zwischen Lemperle und seinem Gegenspieler statt, die sich derart intensiv beharkten, dass sie dabei vom Wesentlichen des Spiels abkamen: dem Ball. Der rollte also in den Sechzehner, wo ihn der hinter den beiden joggende Touré recht freiliegend (Ball) und freistehend (er) fand und dann fast gar nicht anders mehr konnte, als ihn einzunetzen. Klassischer Fall von
„Wenn zwei sich streiten, freuen sich 20.000!“
Ja, natürlich ist es bedauerlich für die TSG, dass ihre Spiele nicht ausverkauft sind, aber man kann von den Leuten nach all den Jahren der Durchschnittlichkeit und Monaten des Chaos nicht erwarten, bei Pisswetter ins Stadion zu pilgern.
Das Vertrauen hat der Verein recht nachhaltig verspielt – und, da kann man auch in Augsburg in der Spitalgasse 15 nachfragen: Die Leute haben’s nicht mehr so mit Marionetten.
Und es reicht auch nicht zu sagen, auch da kann man in Augsburg nachfragen, dass „Graue-Maus-Image“ ablegen zu wollen. Da muss das Sportliche schon dazu passen.
Und das tut es bei uns im Großen und Ganzen und in der 26. Minute ganz besonders. Was lief da das Bällchen fein! Maximal zwei Ballberührungen pro Spieler, Spieler und Ball ständig in Bewegung, jedes Zuspiel in den Lauf und am Schluss ein Schuss, der es in sich hatte. O. K., der Gästekeeper konnte den noch abwehren, aber Burger war zur Stelle. 2:0.
„Das war Fußball.“
Nichts anderes. Fußball. In all seiner Ästhetik. Seiner Dynamik. Fußball in all seiner Simplizität. Aus diesem Grund und in solchen Momenten nennt man den Fußball in Brasilien auch „o jugo bonito“ („das schöne Spiel“). Marcel Reif nennt es ja gerne: „Das Spiel der kleinen Jungs, das von den Großen gespielt wird.“ – und wir wollten gerne mehr davon. Und wir bekamen mehr.
Erst einmal einen Schreck, als der Schiedsrichter plötzlich das Spiel am Fortlaufen unterbrach, weil sich der Kölner Keller meldete – und auch uns ward ganz mulmig, sah das doch zuvor ganz danach aus, als habe Baumann den Ball außerhalb des Sechzehners mit der Hand gespielt. Tat er nicht.
Puuh, das hätte uns doch alle sehr geschmerzt – in seinem 501. Bundesligaspiel.

Aber so ging es weiter mit 11 gegen 11 und weiter nach vorn und … 3:0 nach einer erneut schönen Kombination. Der einzige „Makel“: Eigentor. Aber drin ist drin und Halbzeit und keine Sekunde dachten wir mehr daran, wie gerne wir noch vor wenigen Wochen das Geburtstagskind, den Gästecoach bei uns verantwortlich auf der Trainerbank gesehen hätten.
Auf der Pressekonferenz klang es zwar jetzt nicht auch so, als habe er es bereut, seinen Co-Trainerposten bei der deutschen Nationalmannschaft zugunsten des Cheftrainerpostens bei den Fuggerstädtern anstatt bei uns aufgegeben zu haben, aber er klang schon sehr verbittert ob der 25 Minuten, in denen sein Team das Spiel weggeworfen hätten. In der 2. Halbzeit hätten sie es schon wesentlich besser gemacht, aber da sei es dann auch zu spät gewesen gegen eine starke Hoffenheimer Mannschaft, die das sehr gut gemacht habe und den Sieg einfach viel, viel mehr wollte.
Dem kann man zustimmen, aber muss dabei unbedingt auch Seneca erwähnen:
„Non omne quod nitet aurum est.“
(„Es ist nicht alles Gold, was glänzt.“)
Natürlich könnte man den Spruch auch in Anbetracht der ersten Halbzeit unserer Mannschaft abwandeln in „Nicht alles, was brennt, ist Pyro.“, aber es gab halt auch die zweite Halbzeit, die erinnerte dann doch mehr an Pyrit.
Pyrit ist eines der verbreitetsten Sulfidminerale überhaupt. Es entsteht überall dort, wo Schwefel und Eisen zusammenkommen – in magmatischen, metamorphen und vor allem sedimentären Umgebungen, also in der Nähe von Vulkanen, in der Nähe von Kupfer, Blei und Zink, in Schiefer, Kohleflözen, Ton- und Mergelschichten und kann, wenn bereits vorhandener Pyrit Druck und Hitze ausgesetzt ist, zu größeren, auffälligen Kristallen heranwachsen.
Aber da es hier ja um Illusionen gehen soll: Pyrit sieht aus wie Gold, ist aber keins. Schlimmer noch, es ist nichts wert, man kann sich dafür im Grunde nichts kaufen, es ist also „für die Katz‘“, weswegen man es auch „Katzengold“ nennt.
So groß die Freude auch über den zweitbesten Saisonstart aller Zeiten der TSG ist – und schon heute haben wir so viele Siege eingefahren wie in der gesamten letzten Spielzeit, kaufen können wir uns dafür bislang auch nichts.
Und es lohnt sich, genauer hinzuschauen: Es fehlt nach wie vor der 2. Anzug. Und nach wie vor ist es so, dass bisher die jeweilige Startelf sehr gut spielt, aber die Auswechslungen ganz selten ein neues Feuer entfachen.
Kramaric und Moerstedt waren die ersten zwei, die eingewechselt wurden (für Asllani und Touré), aber sie brachten keinen neuen Schwung in die Offensive. Kabak stand zwar Bernardo (dessen Startelfeinsatz gegen den BVB wohl nicht gefährdet werden sollte (Er steht bei vier Gelben.) jetzt in nichts nach, aber er ist halt eher defensiv, und Prass für Prömel war jetzt auch keine Stärkung. Zuletzt machte Lemperle Platz für Damar, der aber erneut wenig Gründe lieferte, warum er mehr Spielzeit bekommen sollte.
Das wird sehr interessant werden – auch hinsichtlich des sich lichtenden Lazaretts (Gendrey, Hlosek stehen ja bereits wieder auf dem Trainingsplatz).
Die Zwangsschrumpfung des Kaders hat sich bisher als Segen erwiesen, aber was, wenn alle wieder voll fit sind? Gelingt es, den Spirit im Team als Team weiter hochzuhalten? Noch scheint das ja zu klappen, aber es ist augenscheinig, dass die erste Elf in der Regel mehr Power auf den Platz bringt als die letzte.
Also für den großen Traum, am Ende der Spielzeit da zu stehen, wo wir jetzt nach einem Drittel stehen, heißt es wachbleiben.
Aber nach dem, wie die sportlich Verantwortlichen bislang gearbeitet haben, ist nicht davon auszugehen, dass sie woke werden. Und gerade gegen den nächsten Gegner heißt es ausgeschlafen zu agieren – für das nächste Feuerwerk an Arpeggios …
Zu guter Letzt wollen wir noch ein Loblied auf Oli Baumann anstimmen:
So schenkte die Nr. 1 (auch in D) den Fans nach seinem Bundesligaspiel DI (nach lateinischer Schreibweise) nicht nur 500 (lat. D) Liter Freibier – ein Geschenk, das überraschend schlecht angenommen wurde, denn die Theke war nie gerstensaftbefreit, sondern auch Zeit. Sehr viel Zeit.
Bis knapp 20 Uhr saß er im HOFFExpress und signierte Karten, Trikots, Schals, ließ sich geduldigst ablichten. Das war schon sehr hoffenheimelig: kein Gegröhle, keine Randale, sondern artigstes Anstehen, freundlichstes Bitten, alles sehr, sehr zivilisert – und das mit der verdienten Nr. 1 in Deutschland.

Das war wieder einer dieser in der letzten Zeit viel zu seltenen Momente, wo wir besonders stolz waren, Fans dieses besonderen Vereins zu sein.

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