1899 Hoffenheim vs. SpVgg Greuther Fürth
Vagnis statt Wagnis
Über Administration vs. Ambition,
Oster- vs. Angsthasenfußball
sowie andere Wahrheiten
Manchmal ist man echt sprachlos.
Manchmal fehlen echt einem die Worte.
Manchmal gehe einem echt die Ideen aus.
Echt jetzt?
Echt jetzt.
Ja, auch als Profimannschaft.
Wenn man sich das Aus europäischer Spitzenmannschaften wie dem FC Bayern oder dem FC Barcelona aus den europäischen Pokalwettbewerben in der vergangenen Woche anschaut, sieht man, dass genau das auch den besten Teams passieren kann. Allerdings – und auch das gehört zur Wahrheit – spielten beide nicht gegen die SpVgg Greuther Fürth.
Obwohl … aus deren Sicht? Wir wissen es natürlich nicht, aber es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass auch diesen Teams das fehlte, womit die Fans einzig und allein die Höhe des Sieges erwartet haben: die Spannung.
Beide schieden gegen – aus ihrer Sicht – Underdogs aus. Einige (viele) der Fans der Katalanen waren sich sogar so sicher, dass sie auf den Erwerb oder die Nutzung ihrer Tickets verzichteten, die gerne von Gästefans erworben wurden – auch das mit bekanntem Ausgang.
Und hier ist der Moment, wo nicht die Fans auf die Mannschaft der TSG, sondern die Mannschaft der TSG stolz, nein: sehr stolz auf ihre Fans sein sollte und müsste – ganz gleich, ob sich Oli Baumann zur Halbzeit mit den Fans hinter seinem Rücken anlegte.
Nicht er, sondern sie hatten Recht damit, ihren Unmut zu Ausdruck zu bringen – und diesen Unmut taten sie auch nur fair und kurz kund. Die paar (relativ wenigen) Pfiffe waren nach dem Auftritt der Mannschaft nach den ersten 45 Minuten mehr als gerechtfertigt.
Zu schwach, zu unstrukturiert, zu pomadig, zu selbstsicher, zu schwerfällig, zu ideenlos wirkte und war der Auftritt unserer Mannschaft gegen den deutlich Tabellenletzten, deren Abstieg wir mit einem Sieg hätten besiegeln und unsere Ambitionen auf die Teilnahme an einem europäischen Wettbewerb hätten unterstreichen können.
Aber genau die scheinen zu fehlen, die Ambitionen. Gewiss sind sie da, aber wenn man Ambitionen hat, diese aber nicht – und im Falle der TSG muss man leider sagen: des Öfteren gerade in entscheidenden Momenten nicht realisiert bekommt, dann fehlt einem noch was ganz anderes: Ideen.
Die TSG 1899 Hoffenheim ist ein Verein mit hohen Ambitionen.
Aber noch mehr scheint er ein Verein mit sehr hohen Administrationen zu sein.
Ja, der Satz selbst ergibt natürlich keinen Sinn, aber er erfüllt seine Zwecke:
- Hä? (Irritation)
- Was soll das? (Aufmerksamkeit)
- (Ablehnung)
- Oh! (Treffer!)
Wir halten es da mit Mahatma Gandhi:
„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“
Aber noch mehr halten wir es mit der Wahrheit. Das Zitat stammt nicht vom ihm, sondern von einem US-Gewerkschafter namens Nicholas Klein, von dem man nicht viel mehr weiß, als dass er unseren globalen Wortschatz mit diesem Spruch bereichert hat:
„First they ignore you.
Then they ridicule you.
And then they attack you and want to burn you.
And then they build monuments to you.“ (Quelle)
Zur Wahrheit zählt auch: Treffer?
Hm, allein bei dem Wort kommt Sehnsucht auf, denn in den letzten vier Spielen erzielten wir einen einzigen – und den auch in einer Partie, die wir verloren. Gegen einer der Mannschaften, gegen die wir hätten gewinnen müssen – und auch hätten, hätten wir die unbedingten Ambitionen. Aber die scheinen wir nicht zu haben – und wenn, nur bedingt.
Verwaltungen arbeiten für die Bürgerinnen und Bürger. Sie haben Vorgaben und Strukturen, sprich: Wege, die es erlauben und ermöglichen, das gewünschte Ziel zu erreichen. Sie haben allerdings das Problem, dass sie nur dann funktionieren, wenn man sich auf diesen Wegen bewegt. Abweichungen hiervon, sprich: Trampfelpfade sind nicht nur nicht vorgesehen, sie sind auch verboten oder werden gar sanktioniert. Dabei geht es nicht um die Sinnhaftigkeit der Abkürzung. Der mag man eventuell sogar theoretisch zustimmen, aber in der Praxis wird sie abgelehnt. Diese Ablehnung zeigt sich eben in einer Bestrafung bei Abweichungen vor Vorgaben oder der Einrichtung von Maßnahmen, die Abweichungen verhindern.
Und gerade unter Druck zeigt sich dann das Problem von Verwaltungen. Sie sind zu träge. Sie sind hierfür weder gedacht noch gemacht. Und selbst wenn, ist das Personal von Verwaltungen mental und finanziell ungeeignet, potenzielle Chancen zu entwickeln (entdecken geht, aber entwickeln halt nicht) und zu realisieren.
Nun sollte es in Sachen Finanzen bei der TSG kein Problem geben, denkt man sich – und denkt dabei immer an Dietmar Hopp, vergisst dabei aber zwei Dinge: a) bezuschusst er den Verein schon lange nicht mehr, b) hat er es auch nicht mehr sooo dicke … 🙂
In der aktuellen Forbes-Liste (2022) landet „Dietmar Hopp & Familie“ mit einem Vermögen von 4,8 Milliarden Euro „nur“ noch auf Platz 28. (27: ein gewisser Ugur Sahin von Biontech, Mainz, sowie auf 29: Wolfgang Marguerre & Familie (Octapharma, Heidelberg)) Zwei Jahre zuvor waren es 13 Milliarden US-$ (2019: 13,4 Mrd. US-$) – und Platz 7.
… und c) hat er damit nichts (mehr) zu tun. Seine Zeit, dass er für den Erfolg der TSG auf dem Platz verantwortlich war, ist schon lange vorbei. Über ein halbes Jahrhundert ist es her, dass er das tat, wofür wir heute Menschen wie Kramaric, Bebou, Dabbur, Skov, Bruun Larsen im Kader haben: Tore schießen. Und die letztgenannten Personen kicken nicht für die Erfolgsprämie Leberwurst. – Statt dessen lassen sie sich in entscheidenden Momenten immer die Wurst vom Brot nehmen – und das war im gestrigen Spiel besonders deutlich.
Dennoch ist es ja nicht falsch, dass es nicht an den Finanzen liegt. Vor rund zwei Monaten veröffentlichte das Portal „CIES Football Observatory“ eine Studie, die die TSG in den zurückliegenden zehn Jahren als finanziell erfolgreichsten Bundesligaklub auf dem Transfermarkt ausweist. Laut dieser Zehn-Jahres-Studie liegt unser kleiner, feiner Dorfverein europaweit auf Rang 9 aller Topligen, was Hoffenheim zum finanziell erfolgreichsten Bundesligisten macht. Und was macht der Verein draus?
Platz 8 ziert nun dem 30. Spieltag das blau-weiße Wappen, welches noch vor kurzem, nach dem 25. Spieltag, um genau zu sein, Platz 4 zierte. Und seitdem ziert sich die Mannschaft nicht nur Tore zu schießen, sondern auch zu gewinnen. (Bayern (1 Tor / 1 Punkt), Hertha (0/0), Bochum (1/0), Leipzig (0/0), Fürth (0/1). Wer nach dem 25. Spieltag 2 Punkte hinter Platz 3 liegt, hat Ambitionen und holt aus diesen Spielen mindestens sieben Punkte, eher zehn. Jetzt liegen wir 9 Punkte hinter Platz 3 und sind drauf und dran, eine an sich sehr gute Saison wieder ein Mal im Mittelmaß zu beenden. Natürlich auch durch einen Mangel an Mittelfeld – und Mut.
Die Mannschaft scheint Spiele verwalten zu wollen, sie langsam und strategisch anzugehen, eher mit Bedacht denn mit Mut. Das ist eine Arroganz, die uns nicht gut zu Gesicht steht, eine Überheblichkeit, wie man sie eben von Verwaltungen kennt, die einem zwar zuhören, wenn man ihnen neue Vorschläge unterbreitet, aber dann sehr freundlich darauf hinweisen, dass man das alles sehr interessant findet, „leider, leider“ einem die Hände gebunden seien (meist durch selbstgemachte Vorgaben, wobei der Punkt „selbstgemacht“ gerne ignoriert wird) und man es daher nicht machen könne, aber gerne bereit ist, den „ein oder anderen Aspekt“ „in Zukunft“ „in Betracht“ zu ziehen. Vagnis statt Wagnis.
Dieses vage Verhalten war es auch, das man gestern auf dem Platz sah. Kein Wagnis, kein Druck am und/oder hinterm Ball, keine Dominanz.
Firlefanz hingegen en masse: bedächtiger Spielaufbau am eigenen Sechzehner, wohl mit gedachter Finte, der aber nahezu immer mit einem Vorsah-Gedächtnispass in Richtung Autobahn endete und nahezu immer nicht beim Mitspieler landete. Dorfverein ist schön und gut, aber muss man deswegen jeden Ball nach vorne dreschen? Damit erntet man keinen wirklichen Ertrag – und ohne Wage- halt nur den Missmut der Zuschauer. Das mag am Ende des ersten Durchgangs Herrn Baumann missfallen zu haben, den Zuschauern missfielen die gesamten ersten 45+1 Minuten.
Etwas Hoffnung keimte auf, als man erfuhr, dass Prömel im Parallelspiel ein Tor erzielte. Er kommt ja zur nächsten Saison (ablösefrei) und vielleicht sorgt er dafür, dass wir mal wieder ein Mittelfeld haben, das uns aus dem Mittelmaß führt.
Es ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Misere, dass es im Spiel keinen Dreh- und Angelpunkt gibt. Wir haben niemanden auf dem Feld, im Verein, der die Verantwortung auf sich zieht, an sich ziehen will, weil er einen Plan hat, eine Idee und/oder das Vertrauen der Personen um ihn herum, dass er das kann und dass man ihm mal folgt, weil es sich lohnen wird, auch wenn bzw. gerade weil es mal was anderes ist.
Baumgartner, der gestern alles andere als ein gutes Spiel ablegte, ist theoretisch so einer. Er will immerhin. Aber praktisch? Und wenn es bei ihm nicht klappt, wie wieder gestern, gibt es keinen, der ihm zur Seite steht, der seinerseits das Zepter übernimmt. Eher scheint der alte Verwaltungswitz praktiziert zu werden: „Wer nichts macht, macht auch keine Fehler.“
Also macht es eben Kramaric, weil er es wohl als Bestverdiener machen muss. Er hat zweifelsohne gehaltstechnisch die Position in der Mannschaft, nicht aber taktisch auf dem Platz. Aber von ihm (oder sonst wem, aber „nicht von mir“) wird viel erwartet und so wartet jeder darauf, dass wo was passiert. Oder auf den Ball.
Aber wirklich von sich aus motiviert, intrinsisch aktiv wird/wirkt aktuell keiner. So kennt man es von Administrationen, nicht von Menschen/Mannschaften mit Ambitionen. Auch das war mal besser: Bei unserem letzten Sieg (gegen den 1. FC Köln) liefen wir noch 124,3 km. Gestern waren es 117,77.
Und es wurde auch besser: Die Mannschaft kam mit mehr Power aus den Kabinen. Leider führte das zu großem Aua. Samassékou und Posch rauschten mit ihren Schädeln aneinander, was zur Auswechslung unseres letzten Siegtorschützen (einem Verteidiger!) führte.
Und auch danach war etwas mehr Betrieb vor der Südkurve. Aber am meisten betrieb machte die Südkurve selbst.
Erneut sei an dieser Stelle den Fans der TSG ein Riesenlob ausgesprochen, die nicht trotz des eher ermüdenden (und sehr ernüchternden) Auftritt des Teams nicht müde wurden, das Team bis zum Schluss anzufeuern – und das obwohl das Team nicht einen wirklich gefährlichen Schuss AUF das Tor der Gäste abfeuerte. Nicht einen. Gegen den Tabellenletzten!
Das soll jetzt nicht despektierlich klingen, aber gegen einen solchen Gegner muss einem mindestens das gelingen. Natürlich könnte man sich in Galgenhumor flüchten: nicht verloren, zu Null gespielt und die Bayern lagen gegen denselben Gegner zur Halbzeit 0:1 zurück. Wir fungierten auch nicht wieder – wie gegen Hertha – als Aufbaugegner, die Franken haben in dieser Saison immer noch keinen Auswärtssieg erzielt, aber das hätte was von Defätismus, was Oxford Languages wie folgt definiert: „durch die Überzeugung, keine Aussicht auf Sieg, auf Erfolg zu haben, und durch eine daraus resultierende starke Neigung zum Aufgeben gekennzeichnete Haltung.“
Wir geben nicht auf. Und wie du, geneigte/r Leser/in gerade liest, unterscheiden wir uns deutlich von der Mannschaft, denn wir sind auch jetzt nicht sprachlos, uns fehlen auch jetzt nicht die Worte und uns gehen auch nach so einem Spiel nicht die Ideen aus. Wir versuchen immer was und sehr gerne immer was Neues. Natürlich gelingt uns nicht immer alles, manchmal sogar vielleicht wenig oder gar nichts, aber wir machen weiter – mit Neuem. Die einen mögen uns für Wahnsinnige halten, wir aber halten es da mit Albert Einstein:
„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“
Aber noch mehr halten wir es mit der Wahrheit. Das Zitat stammt nicht vom ihm, sondern erschien erstmals 26 Jahre nach seinem Tod, 1981, in einem Dokument der Narcotics Anonymous. (Quelle)
Wir mögen uns jetzt nicht dem Defätismus hingeben, aber hier auch nicht dem Fatalismus, was Oxford Languages wie als die Haltung definiert, „bei der die Ergebenheit in die als unabänderlich hingenommene Macht des Schicksals das Handeln bestimmt.“
Wir sind alt. Wir halten es da mit Bertolt Brecht:
„Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
Aber auch hier halten wir es mit der Wahrheit und weisen darauf hin, dass dieser Satz nur ein Sponti-Spruch aus den 70ern ist, der ihm untergeschoben wurde – wohl auf Basis des Beginns seines Gedichts:
„Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen: denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
…“ (Quelle)
Und genau das wollen wir nicht.
Wir wollen uns nicht ergeben – auch jetzt nicht, nachdem die Mannschaft nicht die Eier (gefunden) hatte, die es gebraucht hätte, um dieses Spiel gegen einen wirklich an sich harmlosen Gegner zu gewinnen, eher Angst- als Osterhasenfußball gespielt hat und sie folglich an Ostern 2022 nicht die erhoffte Wiederauferstehung gefeiert hat, sondern einen akuten Rückfall in die Lethargiedynamik – und folglich auch in der Tabelle.
Platz 6 ist auch die interne Vorgabe sowie der Wunsch und Anspruch (nicht nur) von Dietmar Hopp. Dennoch ist Platz 6 – und damit „Europa“ – immer noch drin. (Theoretisch auch noch Platz 5, aber sechs Punkte Rückstand bei nur noch vier ausstehenden Partien aufzuholen – mit einem wesentlich schlechteren Torverhältnis – wäre vermessen.)
Der große Gönner der Region winkte ab nach dem Spiel. Er scheint nicht mehr daran zu glauben. Wir schon. Einfach nur weil wir es so wollen. Und vielleicht winkt Herr Hopp dann auch wieder der Mannschaft zu – und uns dann in der UEFA Conference League ein Gegner, der uns (auch wenn wir nicht wissen, wo er) liegt, z. B. Alashkert FC, Lincoln Red Imps FC, NS Mura. Vorausgesetzt, sie qualifizieren sich. Und wir.
Auch wenn wir immer noch recht super sauer sind, sind wir der Wahrheit verpflichtet:
Noch ist es möglich …
Also, Team, dann mach‘s auch …
#!&$*% !!!
Oder wie es in Bachs Oster-Oratorium (BMV 249) heißt:
„Kommt, eilet und laufet!“
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