1899 Hoffenheim vs. 1. FSV Mainz 05
Die Grenzen der (Fußball-)Kunst
Ein Spiel – so unterirdisch wie überwirklich …
Es gibt Sachen, die sind einfach erwartbar. Dazu zählen Sätze von Menschen auf dem Heimweg wie:
„Das kann doch nicht wahr sein!“
„Das darf doch nicht wahr sein!“
„Was ist das denn?“
„Was soll das?“
„Und für so einen Müll musste ich auch noch Eintritt bezahlen!“
„Und für so einen Müll kriegen die auch noch einen Haufen Geld!“
„Das ist doch nicht mehr schön!“
„Das kann ich auch!“
„Das kann ich besser!“
Natürlich nicht auf dem Heimweg eines Abendspaziergangs, von der Arbeit, dem Einkauf, sondern vom Heimweg einer Kulturveranstaltung – vorzugsweise „Moderne Kunst“.
Das Problem mit der „Modernen Kunst“ – sooo modern ist sie gar nicht. Sie ist eigentlich das, womit Künstler der jüngeren Vergangenheit, z. B. Magritte, Beuys, der eine mehr in seinen Werken, der andere mehr auf seinem Haupt, bekannt wurden: ein alter Hut.
Seit Ende des 18. Jahrhundert gibt es diesen Terminus, der eigentlich für alles herhalten muss, was nicht gestern war. Die meisten verstehen darunter die „avantgardistische Kunst“ des 20. Jahrhunderts, wobei das ja auch nur der Ersatz eines unklaren Begriffs durch einen anderen ist. Gerne spricht man auch von „zeitgenössischer Kunst“, was insofern ein Rückschritt ist, als dass „zeitgenössisch“ vom Wort her sehr gegenwärtig ist, während „avantgardistisch“ ein gewisses „seiner Zeit voraus sein“ impliziert, denn dieser militärische Begriff (aus „avant“ (vor, voran) und „garde“ (Wache, Wachmannschaft)) beschreibt die Einheiten, die als Erstes und am nähesten an den Feind rückten.
Und wenn es einen Verein in der Bundesliga gibt, den man mit Fug und Recht als fortschrittlich, führend, revolutionär, weg-/richtungweisend, tonangebend, vorkämpferisch, zukunftsgerichtet, zukunftsorientiert, sprich: avantgardistisch nennen kann, dann die TSG. Sie ist der
- … 1. Verein, der es seit Einführung der DFL in die Profiligen im deutschen Fußball geschafft hat, ohne zuvor dort gespielt zu haben.
- … 1. Nicht-Werks-Verein, für den es eine Ausnahme von der 50+1-Regel gab, weil er über zwei Jahrzehnte von einem Mann nachhaltig gefördert wurde.
- … der 1. Verein, der, so traditionslos er auch vielen erscheinen mag, in jedem anderen Verein für Zukunft sorgt, da entweder dort wer kickt und/oder trainert, der Selbiges auch bei uns und vor allem unserer Akademie tat/lernte.
Wenn wir dann noch an den Footbonauten denken, die psychologische Betreuung, die Videowall und und und … da sind wir schon sehr, sehr weit vorne. Das ist, wie Kunst, schön. Doof nur, dass das mit der Wirklichkeit nur begrenzt zu tun hat.
Nun wollen wir nicht sagen, dass Fußball keinen Raum für Kunst und Kultur bietet. Schon vor Jahren warfen wir einen ausgiebigen Blick auf eine eigentlich sehr kurze Epoche, die perfekt zum Fußball passt: „Sturm und Drang“.
Wenn es aber eine Kunstrichtung gibt, die genau das zwar auch tut, aber nicht im Sinne des klassischen Fans, dann ist das, wie das gestrige Spiel eindrucksvoll bewies: der …
Surrealismus.
Obwohl per se ja schon – und er passt auch insofern zur TSG, denn wieder war der Verein seiner Zeit voraus, denn dieser Stil feiert erst in fünf Jahren sein 100jähriges.
1924 erschien das „1. Manifest des Surrealismus“ von André Breton. Dieses sowie seine beiden Folgebände bilden seine intellektuellen Grundlage.
Der Surrealismus (ebenfalls ein Kompositum – aus „sûr“ (über) und „realisme“ (Wirklichkeit)) („réalisme“) bezeichnet eine geistige Bewegung, die sich als Lebenshaltung und Lebenskunst gegen traditionelle Normen äußert und zu einer „absoluten Realität“ führe, die eben geheimnisvoll, rätselhaft, traumhaft, übernatürlich, unwirklich, wundersam, sprich: surral sei.
„Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.“
(André Bréton, 1. Manifest des Surrealismus, 1924)
Der Surrealismus verarbeitet vor allem psychoanalytisch begründete Theorien gegen die herrschenden Auffassungen. Ein wesentliches Merkmal des Surrealismus ist das Absurde. Auf diese Weise sollen neue Erfahrungen gemacht und neue Erkenntnisse gewonnen werden.
Auch so gesehen war die gestrige Partie ein Meisterwerk des Surrealen, denn so sorgte die bloße Bekanntgabe der Startelf schon vor dem Anpfiff für die wundersamsten Anordnungen von Bildern und Begrifflichkeiten in den Aufstellungsdarstellungen der einschlägigen Fußballportale.
Doch Schreuder war noch revolutionärer als Magritte:
Nun kannte man seinen Faible für Konfrontation der Konvention durch Explositivität von Kreativität, auch wenn diese zu einer relativen Reduktion in Sachen offensiver Detonation führte, was sich in der Aufstellung Skovs als Linksverteidiger Bahn brach, ohne dass er sich da je Selbiges.
Inzwischen hatte man sich daran gewöhnt – und es wurde auch immer besser –, so dass Schreuder ganz im Sinne Brétons an eine „Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände“ von Offensive und Defensive glaubte, was zudem durch die Länderspielpause und ihm dadurch nur begrenzt zur Verfügung stehende Kader gewiss gefördert wurde.
Jeder spielt mal hier, mal da.
Oh, wie schön, wie wunderbar.
Spielt einfach lustig, tralala
Vorne, links, Akpoguma.
Und so wie in diesem semidadaistischen Gedicht, so auch in der semidadaistischen Startelf: Plötzlich merkt man’s. Bei aller Originalität des Werks, am Ende kommt es aus dem Tritt, verfehlt die Pointe, der ganze Gag verflacht mindestens so sehr wie das Spiel der TSG nach drei Minuten.
Das Intro war allerdings hervorragend dazu geeignet, die Illusion eines realen Fußballspiels zu erleben: Locadias Megachance sowie die Eckbälle, deren Qualität in reziproker Relation zu ihrer Quantität standen – und wir hatten wirklich viele Eckbälle – plus noch zwei, drei weitere 98,5% Chancen, wirkte doch alles sehr souverän und die Führung für uns schien nur noch eine Frage der Zeit.
Doch die Zeit antwortete nicht. Nicht so, wie man sich das aus TSG-Sicht dachte. Vielmehr begann das Spiel seine ersten Synästhesien zu entfalten: Das TSG-Spiel blieb monoton, während das der Gäste immer bunter wurde, was unsere Defensive offensichtlich dazu einlud, es ebenso zu treiben.
WTF ≠ „Wow! Tolles Fußballspiel!“
Mit großem An- hielt sie großen Abstand zu der Gäste An-, die dann Zugreifer wurden. Begriffen hatte es jedenfalls niemand, warum wir plötzlich 0:1 zurücklagen.
Eine Theorie war, dass es daran lag,
dass der Ball da lag,
wo er, oh Weh, oh Klag’,
dass man’s gar nicht sagen mag,
wo er nicht liegen sollte,
er also ins Tor rollte,
weil’s der Gegner wollte.
Man zuckte kurz,
aber nur mit der Schulter:
Kein Stress, wir haben ja einen Lauf.
Wir holten ja auch im letzten Spiel gegen den selben Trainer ein 0:1 auf.
Das wird schon noch, sprach das weite, leeeeeeeeeeeeeeere Rund, gedeeeeeeeehnt,
zumal der FSV in Halbzeit 2 nur noch zu zehnt
– durch Entscheid des VAR,
der klar wahr war …
… obwohl eigentlich nicht im Sinne des Spiels. Der Schiedsrichter hatte die Szene gesehen und beurteilt. Ja, sehr lasch, aber gravierend falsch? Nein. Egal …
Die Karte war gezückt.
Jetzt wurd’s verrückt …
Es kam zwar eins zum ander’n:
1 Halbzeit rum.
1 zu null hinten.
1 Mann mehr.
1 Halbzeit zu spielen. Aber
1 wurd’s nicht:
1 Sturmlauf
… aber nichts zusammen. Natürlich erwartete jeder jetzt jenen Sturmlauf, zumal Akpoguma wich und Kramaric kam, aber – und das ist ja das Besondere am Surrealismus: Es sind die Kleinigkeiten, die winzigen Umstellungen des Bekannten, um ganz neue Facetten zu erkennen, denn der Sturmlauf der TSG fiel doch eher „sturmfaul“ aus.
Ja, wir hatten unsere Chancen vorne und noch mehr hinten, doch keine genutzt – und so kamen wir bei 11:10 Mann und 15:4 Torschüssen in der zweiten Hälfte nur zu einem Tor, die Gäste zu vieren, weil Vogt an dem Tag besser verteidigt hätte, wäre er auf allen selbigen gewesen. Oder in der Oper. 1:5. Gegen diese Abwehr war das an diesem Tag auch wahrlich keine Kunst. Obwohl das Eigentor von Kaderabek schon sehr kuri- und virtuos war.
An sich war nach dem 0:2 immer noch genug Zeit, aber es passte einfach perfekt zu diesem Abend, dass diese den Dalí machte und mehr und mehr verrann–…
… -te sich dann auch unsere Mannschaft im Mainzer Menschenmeer
So hieß es am Schluss in den Katakomben „Abhaken.“ Und auf dem Heimweg
von der subperformativen Aus-
über eine moderne Auf-
und unklare Einstellung …
… sprach mit max. Ernst der Fan *)
„Das kann ich besser!“
„Das kann ich auch!“
„Das ist doch nicht mehr schön!“
„Und für so einen Müll kriegen die auch noch einen Haufen Geld!“
„Und für so einen Müll musste ich auch noch Eintritt bezahlen!“
„Was soll das?“
„Was ist das denn?“
„Das darf doch nicht wahr sein!“
„Das kann doch nicht wahr sein!“
War es doch. Irgendwie. Surreal.
*)Bild: Max Ernst, Der Hausengel (Der Triumph des Surrealismus), 1937
-
oder diesmal nur:
https://www.youtube.com/watch?v=ylXk1LBvIqU – wieder mal!
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