1899 Hoffenheim vs. Hannover 96
Eine Partie ward Poesie
Ein Gedicht von einem Spiel – und Team
Endlich zeigte sich die Mannschaft von ihrer besseren Seite. Bei dem Spiel stimmte eigentlich alles – und da „eigentlich“ bekanntlich ein Wort ist, das man eigentlich nicht braucht, ergänzen wir hier gerne: außer dem Ergebnis, denn das hätte noch höher ausfallen müssen als die Töne des Lobes, die der Mannschaft nach dem Spiel zuteil wurden.
Da hat wohl wer neue Saiten aufgezogen, die dafür sorgten, dass das Team, der (Klang-)Körper, nach ganz, ganz anfänglichen Dissonanzen so richtig in Schwung kam. Und natürlich ist es Zufall, dass es genauso viele Umstellungen in der Startelf gab (Amiri, Belfodil, Nuhu, Vogt für Bicakcic, Bittencourt, Grillitsch, Hübner), wie eine Lyra Saiten hat, aber es ist eine Vorlage, die wir uns genauso wenig entgehen lassen wollen, wie Joelinton die der Gäste zum 1:0.
Denn die Lyra, den meisten wohl bekannt aus dem Hollywood-Film „Quo vadis?“ mit Peter Ustinov selig in der Hauptrolle als Kaiser Nero („O, du loderndes Feuer …“), ist die nämliche Mutter der Lyrik.
Lyrik wiederum ist etwas, was bei den wenigsten Menschen Freudenstürme auslöst, es sei denn, im Scrabble. Also „die zum Spiel der Lyra gehörende Dichtung“, wie wikipedia „Lyrik“ eindeutscht, muss angesichts dieses Spiels einfach mal etwas näher behandelt werden, wo wir uns doch sonst mehr an den anderen beiden literarischen Gattungen Epik und Dramatik versuchen.
Außerdem bemühte unser CEO im Rahmen seiner allwöchentlichen Prognosen auf SPIEGEL Online als „Bundesliga-Experte“ (räusper) gleich drei große Dichter, um Stimmung, Form und Gefühlslage zu bezeichnen:
Und weil er per se nicht ganz dicht ist, aber diesmal recht dicht dran war, soll es diesmal um die Dichtkunst gehen, die wir gedenken, dir, geneigte/r Leser/in, anhand unserer Mannschaft und dieses Spiels, was ja geradezu ein Gedicht von einem Spiel war, näherzubringen – vielleicht hilft das ja dir (deinen Kindern, Enkeln) bei den anstehenden Deutschprüfungen – auch wenn ein Punkt uns sehr zuwider läuft: Ein wichtigstes Kriterium der Dichtkunst ist Prägnanz.
Lyrische Texte unterscheiden sich sprachlich-formal von epischen und dramatischen vor allem durch ihre Kürze, ihre strengere sprachliche Form, ihre semantische Dichte (Ausdruckskraft) und sprachliche Ökonomie (Prägnanz), ihre Subjektivität und ihren Bezug auf ein lyrisches Subjekt (z. B. ein lyrisches Ich, Du oder Wir). (Quelle)
Diese Prägnanz zeigt sich trotz ihrer Vielfalt in ihrer jeweils innewohnenden Strenge auf den verschiedenen Ebenen der sprachlichen Gestaltung:
Versfuß
Den stellen wir gerne etwas ausführlicher dar, um zu zeigen, welches poetisches Potenzial in unserem Team steckt, wahre „Versfußballer“:
- Jambus (eine unbetonte Silbe folgt auf eine betonte), z. B.
z. B. „Baumann“, „Szalai“, Doppel-Jamben wären „Kaderabek“, „Joelinton“ - Trochäus (eine betonte Silbe folgt auf eine unbetonte), z. B. „Kasim“
- Daktylus (zwei unbetonte Silben folgen auf eine betonte), z. B.
„Demirbay“, „Kramaric“, Bittencourt“,„Nagelsmann“ - Anapäst (eine betonte Silbe folgt auf zwei unbetonte), z. B. „Belfodil“
Versmaß (sozusagen der Matchplan eines Gedichts)
Von denen gibt es so viele, wie wir Großchancen in der Partie hatten. Das aber würde wahrlich zu viel, deshalb geben wir hier nur pro Aluminiumtreffer ein Beispiel:
- Blankvers ist ein fünffacher jambischer Vers, der nicht wenig an die mangelnde Chancenverwertung in diesem Spiel und überhaupt die ganze Saison erinnert: Man kann sich keinen Reim drauf machen.
- Alexandriner ist eine jambische Versform mit 12 oder 13 Silben. Bemerkenswert ist dabei das, was jedes Fußballspiel auch hat: eine Pause mittendrin. (Aber ACHTUNG liebe Schüler: In einer Prüfungssituation nicht von „Halbzeit“ sprechen. Der „Pausentee“ der Lyrik heißt „Zäsur“.) Beispiel:
Der Pfiff ertönt’ zu Recht. Der Freistoß kommt geflogen.
Vom Rücken dann ins Netz in ähnlich hohem Bogen.
Der Jubel brandet auf. Der Schiri greift ans Ohr.
Die Zeit steht still im Rund. Minuten später: Tor!
- Hexameter
Er besteht aus sechs (hexa) Daktylen, deren letzter um eine Silbe verkürzt wird:
Demirbay dann den Ball kurz und trocken ans Gehäuse knallte.
So viele Chancen noch folgten… Doch „Nein!“ Kein Jubel erschallte.
Strophenformen
Auch derer gibt es viele (Alkäische Strophe (nach dem griechischen Dichter Alkois benannt), Chevy-Chase-Strophe (nicht nach dem US-Komiker Chevy Chase benannt), Distichon, Sestine, Terzine) für die wir hier jetzt kein Beispiel haben, weil wir uns so freuen, dass es eine Form nicht gab, die wir in der Saison schon so oft fühlten: die Katastrophe.
Das klingt nun mal so gar nicht nach Gedicht, hat aber etwas damit zu tun, denn die griechische Vorsilbe „kata“ („κατά“) heißt so viel wie „gegen“ und „Strophe“ („στροφή“) entspricht „Wendung“, doch diesmal drehte sich das Spiel nicht gegen die, die ihre Möglichkeiten nicht in Tore ummünzen konnten.
Gedichtsform
Die Partie ward zweifelsfrei Poesie, ein Gedicht. Und was für eins? Nun, die Frage der Form ist auch da entscheidend, allerdings entscheidet die Form eines Gedichts etwas über seine Absicht bzw. seine Wahrnehmung, nichts über seine literarische Qualität.Welche Gedichtsform aber nun die richtige ist, um die spielerische Qualität der Partie zu beschreiben, wissen wir nicht. Einige fallen raus, einige fallen uns ein. Und da wir selbst Tore sind, versuchen wir uns an so vielen, wie es Tore gab.
- Ballade?
Nun, man könnte das annehmen, schließlich agierten unsere Jungs sehr schwungvoll, aber wirklich tänzerisch war es nicht. Auch wenn sich Kramaric an einem Heber versuchte und Nelson gewiss noch für Akzente hätte sorgen können, wobei wir es gut fanden, dass bei der Deutlichkeit der Überlegenheit, Otto seine ersten Spielminuten bekam – und ihm ging’s dabei ganz anders als „seinem“ durch Ernst Jandls Gedicht berühmten Hund. („Ottos Mops“ behandelten wir bereits hier.)
- Elegie?
Definitiv nicht, denn das Spiel in Gänze gab keinen Grund zur Klage.
- Epigramm?
Hierbei handelt es sich ebenso wenig um ein Gewichts- wie bei Hexameter um ein Längenmaß. Es ist ein „Sinngedicht“, das nach Lessing unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgendeinen einzelnen Gegenstand erregt, „um sie mit Eins zu befriedigen“.Der Fuß, der folgt perfekt, hernach der Blick dem Ball.
Das Tor, das steht und fällt dann doch. Der Rest ist Schall.
Denn gspielt ward Ball nach vorn, Kopf hoch – und sodann quer.
Mit Herz und Hirn agiert, das freut doch alle sehr.
- Haiku?
Das 3-4-3 der Poesie aus Japan: ein 5-7-5 (gemeint ist die Silbenzahl)Am Ende fiel es.
Sich alle in die Arme.
Himmelhochjauchzend. - Hymne?
Nun, selbstverständlich könnte man einen solchen Lobgesang, so die deutsche Übersetzung, anstimmen, aber a) will uns keiner singen hören, b) gab es dazu neben der vielen vergebenen Chancen einfach noch zu viele Momente der Imperfektion. Das ist zwar Jammern auf hohem Niveau (die allerdings nicht genug sind für eine Elegie („Klagelied“)), aber gegen einen stärkeren Gegner, was an diesem Samstag so ziemlich jede andere Mannschaft gewesen wäre, hätten die unsauberen Klärungsaktionen, insbesondere die Faustabwehren Baumanns, wahren Schaden anrichten können.
- Limerick?
Diese nach einer irischen Stadt genannten Form ist vielleicht eine der bekanntesten, was nicht nur an seiner ungewöhnlichen Form an sich liegt, als Fünfzeiler mit dem Reimschema aabba, sondern auch an seinem Ende, das dem Rezipienten eine emotionale Reaktion, meist ein Schmunzeln, entlocken soll.Was für ein tolles Spiel von Hoffe.
Die Jungs sinn verdammt viel geloffe.
Hamm hinten kein’ kassiert
Dafür ist vorne viel passiert.
Hädde se doch bloß aa öffda getroffe … - Ode?
Damit ist nicht der Schauspieler gemeint, den der gemeine Hoffenheim-Fan noch mit „Der Kommissar“ assoziiert (Wenn du dich jetzt fragst, was Falco damit zu tun hat, geneigte/r Leser/in, frage deine Altvoderen), sondern eine Gedichtsform, die sich im Gegensatz zum Limerick durch einen besonders feierlichen Ton auszeichnet. Auch dafür war das Auftreten insgesamt zu wenig. Wir versprechen aber, eine zu schreiben, sollten wir uns doch noch für die UEFA Champions League qualifizieren. Noch ist das drin, denn noch sind wir dran.
- Sonett?
Mit ihren 14 metrischen gegliederten Verszeilen, unterteilt in vier kurze Strophen (zwei Quartette, zwei Terzette) eine der gestrengsten Gedichtsformen überhaupt. Das „Klinggedicht“ erlaubt immerhin verschieden Reimschemata, z. B. abba abba cdc dcd, abba cddc eef ggf oder abab cdcd efe fgg. Letzteres findet sich in dem besonders bei Schüler/innen sehr beliebten Werk von Robert Gernhardt:
Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
dass wer Sonette schreibt. Dass wer den Mut
hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, dass so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut
darüber, das so’n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggression auf den Macker.
Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und will’s echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.
—
P.S.: Nun, wegen des Spiels wollen wir auch mal an einem versuchen, denn es war ja …
So nett
Als TSG-Fan hatte man zuletzt Woch’ um Woch’
Gezittert und gebibbert und sich die Nägel abgekaut.
Doch wer am Samstag sich das Spiel hat angeschaut
Sah Nagelsmanns Mannen – und sieh’: Sie können es ja doch.
Natürlich war der Gegner wie kein Zweiter je zuvor
Passiv, schwach, und wahrhaftig ohne jede Chance.
Doch der Fan, der war berauscht, ja, fast in Trance.
Und freute sich über die drei Punkte. Tor! Tor! Tor!
Ja, da hatten sich dann alle wieder gerne.
Was so ein Sieg für Wunder wirken kann
Die Champions League liegt noch in weiter Ferne …
In den nächsten Wochen aber dann
Kann sie mit zwei Siegen näherrücken.
Ach, TSG, mach weiter … tu weiter mich entzücken.
P.P.S. Weil es so nett war, sind wir so nett ….
… und verschenken eine Flasche „Hoffenheimer Jubeltropfen“ an den-/diejenige/n, der sich in den Kommentaren selbst an einem Sonett versucht und uns damit ebenso begeistert wie das Team letzten Samstag. Zu deutsch: Es gäbe nur eine/n Sieger/in! Also, falls du, geneigte/r Leser/in, so nett wärest …
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Niederländisches Sonnet van Pieter Corneliszoon Hooft, verfasst in 1609:
„Mijn lief, mijn lief, mijn lief; soo sprack mijn lief mij toe,
Dewijl mijn lippen op haer lieve lipjes weiden.
De woordtjes alle drie wel claer en wel bescheiden
Vloeiden mijn ooren in, en roerden (‚ck weet niet hoe)
Al mijn gedachten om staech maelend nemmer moe;
Die ‚t oor mistrouwden en d woordjes wederleiden.
Dies ick mijn vrouwe bad mij claerder te verbreiden
Haer onverwachte reên; en sij verhaelde‘ het doe.
O rijckdom van mijn hart dat over liep van vreuchden!
Bedoven viel mijn siel in haer vol hart van deuchden.
Maer doe de morgenstar nam voor den dach haer wijck,
Is, met de claere son, de waerheit droef verresen.
Hemelsche Goôn, hoe comt de Schijn soo naer aen ‚t Wesen,
Het leven droom, en droom het leven soo gelijck?“Übersetzung: Der Geliebte des Ich erklärt ihm die Liebe und wiederholt es auf seine Bitte, aber sein Glück wird zerstört, wenn der Tag kommt und er aufwacht.
Ausreichend Metaphern zum Fussball, oder?
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