FSV Mainz 05 vs. 1899 Hoffenheim
90 Minuten
Moderne Dramen und die Tücken der Technik
Wirklich gesicherte Erkenntnisse nach dem Grund liegen nicht vor. Im Fußball. Beim Film ist es hingegen schnell erklärt. Und im Weltraum auch. Theoretisch wäre es auch in Sachen moderner Tonträger kein Problem gewesen, aber 1951 fiel die Entscheidung auf Ludwig van Beethoven.
Nun, letzteres zählt zu den modernen Mythen, denn die wahren Gründe sind andere, vor allem aber Praktikabilität, aber sei’s drum. Nehmen wir diesen Mythos als wahr an und hätten sich die Herren der Fußballregeln ebenso wie der Sage nach der Chef des Unternehmens, das die CD-ROMs entwickelte, entschieden, wären wir locker als Sieger vom Platz gegangen. Aber so nicht. So dauert ein Fußballspiel eben keine 650 MB, respektive 74 Minuten, sondern seit 1897 (offiziell) sechzehn Minuten länger als die 1824 fertiggestellte 9. Sinfonie, deren Finale wohl wirklich jeder kennt.
Es ist die Grundlage der Europahymne mit der Vertonung des Gedichts „An die Freude“ von Friedrich Schiller als Chorfinale. Die in der Sinfonie genannte „Ode an die Freude“ ist der Schlusspunkt dieses Werkes, in dem es um das Ringen des Herzens eines Menschen geht, „das sich aus Mühen und Leiden nach dem Tag reiner Freude sehnt, der ihm doch in voller Klarheit und Reinheit nicht beschieden ist.“ (Quelle)
Passt zu dem Finale des gestrigen Spiels. Allerdings nicht perfekt, denn „Mühen und Leiden“ waren in der 2. Halbzeit mehr abseits des Platzes oder beim Gegner zu erkennen, aber das Sehnen nach reiner Freude, das war wohl überall groß.
So aber, und weil ein Fußballspiel eben nie wirklich „nur“ 90 Minuten geht, sind es nun bereits acht Punkte, die wir nicht haben. So sind es nur 10 und aktuell auch nur dieser Tabellenplatz – statt eben 18 und 4.
Auch wenn es kein Trost ist, immerhin waren dies die ersten Punkte, die wir in dieser Saison am Ende eines Spiels verloren haben. Das gab es früher öfter. Diesmal verteilten wir unsere Unkonzentriertheit auf die Dauer des Spiels. Am Anfang war das mehr so Mitte zweiter Halbzeit, letztes Mal war es zu Beginn des Spiels, diesmal eben zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sonst in unschöner Regelmäßigkeit Punkte und gar Spiele verloren haben. So weit kam es diesmal nicht. Und das war sogar noch Glück.
Und unnötig. Zugegeben, am Anfang hatten wir Pech. Schöne Einzelaktion Elyounoussi, schöner Schlenz, Latte. (Dieses Element wurde bereits 22 Jahre vor der Festlegung der Spielzeitdauer eingeführt (1875) und festgeschrieben auf eine Höhe von 8 Fuß (2,44 m). Zuvor musste der Ball lediglich irgendwie zwischen die Stangen, wie es heute ja noch beim großen Bruder, dem Rugby, der Fall ist.)
Doch dann ging es Schlag auf Schlag:
1:0. Volland. Schöne Einladung der Gästeabwehr, die er gerne an- und dann Maß nahm. Der zweite Schuss aufs Tor und zum ersten Mal zappelte der Ball in dem Teil des Spiels, das 1890, also ebenfalls weit vor der Festlegung der Spielzeit, seinen Weg ins Regelwerk fand: dem Tornetz.
Als Modeste verletzungsbedingt früh raus musste, war einem gar nicht wohl, aber das legte sich schnell. Zu harmlos waren die Gastgeber, zu sicher standen wir. Auch hinten, wo links Toljan sein Debüt gab und seine Sache wirklich gut machte, wenngleich gegen einen nicht wirklich starken, jedoch sehr bemühten und immer bereiten Gegner.
Nach der Führung konzentrierte sich die Mannschaft nachvollziehbarerweise darauf, die Spielentwicklung der Heimmannschaft zu stören und dann schnell nach vorne zu spielen. Hier war Polanski bei seinem Ex-Klub sichtlich motiviert und in seinen Bemühungen sehr oft erfolgreich. Ball auf die Außen und von da oder gleich direkt nach vorn.
Immer wieder wurde Schipplock geschickt, der für Modeste kam. Er spielte sein Spiel, allerdings machte man sich schon Sorgen um seine Physis, denn schließlich waren weit mehr als die zum Zeitpunkt seiner Einwechslung sonst üblichen rund 20 Minuten zu spielen. Aber schon in seiner ersten Aktion zahlte er sich aus, setzte er sich durch und Firmino in Szene, der diesmal den Ball weit weniger hoch über den Torwart der Gäste lupfte. 2:0.
Das sah gut aus. Und da sich auch sonst nichts mehr tat, nutzte der 1874 eingeführte und seit 1883 alleinig entscheidungsbefugte Akteur des Spiels das ihm erstmals 1878 zugestandene Hilfsmittel, um die seit 1875 im Regelwerk festgelegte Zäsur im Spiel in Kraft zu setzen, d.h. der Schiedsrichter pfiff zur Halbzeit.
Die Länge der Pause ist interessanterweise eigentlich nur als Maximum festgelegt. Eigentlich soll die zweite Hälfte exakt eine Stunde nach dem Anpfiff der ersten erfolgen, d.h. eventuelle Nachspielzeiten aus dem ersten Durchgang müssen – eigentlich – von der Pause abgezogen werden.
Der Grund hierfür ist ebenfalls nicht gesichert, aber auch das dürfte mit dem Zustandekommen der Spielzeit zu tun haben sowie der gesellschaftlichen Situation am Ort und zum Zeitpunkt seiner wachsenden Popularität.
England Ende des 19. Jahrhunderts. Die Industrielle Revolution. In den Bergwerken musste Kohle, Kohle, Kohle gefördert werden, um die Maschinen in Betrieb zu halten, die laufen, laufen, laufen mussten. Das heißt (extrem simplifiziert): Das Gros des Volkes musste stets und ständig arbeiten. Ausfall- oder gar Ruhezeiten waren nicht denkbar. Die Maschinen gaben den Takt vor. Permanente Verfügbarkeit war ein Muss. (Heute gibt es statt Webstühle WLAN, statt Flöze Flatrate.)
Andererseits sah man seitens der Arbeitgeber ein, dass die Arbeitskräfte auch Pausen und Entspannung sowie ein Gemeinschaftsgefühl brauchten, um wieder zu Kräften zu kommen. Heute nennt man das Work-Life-Balance. So ging es also um einen Kompromiss. Wie lange kann eine Fabrik auf eine Arbeitskraft verzichten? Und dabei war es ja egal, ob sie als Zuschauer oder Spieler ausfiel.
Auch die Anstoßzeit erklärt sich daraus ganz gut. Man darf ja nicht vergessen, dass es damals bestenfalls die 6-Tage-Woche gab, also fanden die Spiele meist sonntags statt. Außerdem war man da noch etwas kirchenfester, also Gottesdienst, Mittagessen und dann raus zum Kick, schließlich geht außer im Hochsommer, und da wird nicht gekickt, die Sonne früh unter.
Nur eine Theorie, aber sie klingt ganz plausibel, wie es zu den 90 Minuten kam und warum die Halbzeit keine Mindest-, sondern eine Maximaldauer hat. Und mit dem letzten Verweis, dass Fußball auch in Deutschland vor allem in den Kohleregionen gespielt wurde, was Zufall sein kann, aber nicht muss, geht’s nun so langsam zurück zum Spiel.
Heute wird das mit der Halbzeit ganz anders gehandhabt, weil die Interessen und die das Spiel von außen beeinflussende Fakoren andere sind. Es sind nicht mehr die Fabriken, die eine Minimalpräsenz ihrer Arbeitskräfte am oder auf dem Spielfeld haben wollen, sondern es sind die Medien, die eine Maximalpräsenz des Events wollen. Und dazu zählt ein fester Zeitrahmen, in dem sie Werbezeiten verkaufen können. Und im Spiel selbst gibt es ja keine, z. B. durch Auszeiten. Also sind es heute, auch wenn es so im Regelwerk nicht steht, mindestens 15 Minuten.
Wie zu erwarten, kamen die Gäste sehr motiviert aus der Kabine, aber nach wie vor, bestand kein Anlass zur Beunruhigung. Im Gegenteil, nach rund 10-15 Minuten in der 2. Halbzeit ließen ihre Bemühungen merklich nach und wir wieder Ball und Gegner laufen. Wir spielten hübsche Konter, aber diese nicht zu Ende.
Zudem ließen Rudy und Polanski merklich nach. Sie produzierten in der 2. Halbzeit Fehlpässe en masse, dafür gewannen sie keinen einzigen „2. Ball“ in der 2. Halbzeit.
Gisdol reagierte mit den Einwechslungen von Strobl und später noch Süle, aber da hätte man den Sack schon längst zugemacht haben müssen, Aber da gibt es ja im Fußball die alte Weisheit, dass, wenn du deine Chancen nicht nutzt, dies der Gegner tun wird. Und diese hat sich auch in diesem Spiel bewahrheitet, denn als Beethovens Chor schon lange verstummt wäre und der rote Chor, die Fans der Hausherren, es längst war, kamen die Gastgeber zum dann gar nicht mal unverdienten Anschlusstreffer.
Plötzlich wurde unserer Mannschaft gewahr, dass da nun wahr werden könnte, was noch Sekunden zuvor wahrlich unwahrscheinlich erschien. Aber so schnell schaltet es sich aus dem Leerlauf nicht in den sechsten. Das dauert und in dem Falle dauerte es zu lange.
In der Nachspielzeit erzielten die rheinland-pfälzischen Hauptstädter den Ausgleich – wie so oft im Anschluss an eine Ecke, die, wie so oft nicht hätte sein müssen, aber zwischen Abraham und Casteels klappte es nicht mit der Kommunikation. So kam es zur Ecke, der Gästegoalie nach vorn, an den Ball, unglücklicherweise aus unserer Sicht zum Mitspieler und von da über unseren Goalie.
Dass nur wenige Sekunden später fast noch ein Tor zu unseren Ungunsten fiel, kümmerte da auch keinen mehr. Zu geschockt und sauer war man ob dem Verhalten der eigenen Elf vor allem in der 2. Hälfte der 2. Hälfte.
Ja, Konstanz ist eine Stadt am Bodensee, aber nicht die ist es, die unserem Team fehlt. Es ist die andere, die man mit „Beständigkeit“ eindeutschen kann. (O.K., auch die Stadt könnte man so übersetzen, wenn man den Namen ihres Gründungsvaters zu Grunde legt. Und dabei ist es ganz gleich, ob man sich für die eine Theorie entscheidet, wonach die Stadt rund 300 n. Chr. vom römischen Kaiser Constantinus I. gegründet wurde oder die, 50 Jahre später durch seine Enkel, Constantinus II.)
Dieser Mangel an Festigkeit und Gründlichkeit, wie man Konstanz auch übersetzen kann, war es dann wohl auch, die Markus Gisdol in der anschließenden Pressekonferenz hat mal weniger diplomatisch pädagogisch hat klingen lassen. Man spürte, dass er sehr enttäuscht und sehr sauer war.
Auf der Heimreise dürften das die Spieler auch gemerkt haben und nicht zuletzt einige von ihnen deshalb sehr froh sein, dass sie zu ihren Nationalverbänden reisen können. Sie liefen sonst nicht nur aus, sondern auch Gefahr, dass Gisdol ihnen den Kopf abreißt.
Auch wenn der Ausgang keinem Hoffenheim-Fan gefallen kann, zeigte es sich wieder, dass 90 Minuten einfach die perfekte Dramenlänge sind. Allerdings hat sich die Filmindustrie bei der Gestaltung der Filmlänge nicht vom Fußball inspirieren lassen. (Ebensowenig wie die Kultusbehörden bei der Gestaltung der Länge von Unterrichtseinheiten.)
Da hat es technische Gründe: Ungefähr 45 Minuten passten früher auf eine Filmrolle. Die meisten Kinos, die früher viel schöner „Lichtspielhäuser“ hießen, verfügten meist nur über zwei Projektoren, so dass nur ein Wechsel möglich war. (Und während im Saal der Teil 2 von Projektor 2 zu sehen war, wurde Teil 1 auf Rolle 1 für die nächste Vorführung zurückgespult.)
Ein schönerer Zufall mit dieser Zeitspanne befindet sich über unseren Köpfen und zwar in einer Höhe, die etwa der Distanz zwischen dem Ort des gestrigen Geschehens und besagter Stadt an der Grenze zur Schweiz entspricht. Dort befindet sich die internationale Raumstation ISS. Und sie braucht für eine Erdumrundung bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 28.000 km/h ziemlich genau … taraa … 90 Minuten. Plus Nachspielzeit.
Und diesem Fakt zu Ehren sowie dem vergangenen Donnerstag angelaufenen Kinofilm „Gravity“, der ebenfalls jene 90 Minuten dauert, liegt die heutige Musikauswahl zugrunde.
„Spiegel im Spiegel“ heißt das Stück von Arvo Pärt, einem Komponisten moderner Klassik, dessen wohl bekanntestes Stück dem Titel nach dem entspricht, was Gisdol nach dem Schluspfiff gerne mit seiner Mannschaft gemacht hätte – und mit manchen Spielern nach deren Rückkehr wohl auch machen wird: Tabula rasa.
Und dann geht’s weiter …
(Bildquelle: Uwe Grün, Kraichgaufoto)
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