RB Leipzig vs. 1899 Hoffenheim
Die Bullen mit den Pferdelungen
Kein Grimm. Kein Märchen.
Es war einmal ein kleiner Dorfverein.
Der spielte seit vielen Jahrzehnten völlig unbeobachtet von Fußball-Deutschland in den Ligen seiner Heimat. Kreisklasse, Bezirksliga, Landesliga, Oberliga. Und wahrscheinlich würden sie auch weiterhin dort spielen. Doch eines Tages kam ein Mann zu ihnen. Er sprach: „Gebt mir, was euer ist – und es soll euer Schaden nicht sein.“
Manche waren sofort verführt, denn der Mann, der zu ihnen sprach, war reich. Manche hatten Sorge. Was würde aus ihnen werden? Wie soll wachsen, was seinen Boden verliert? Doch der Mann sprach: „Ich kenne euch. Ich kenne eure bewegte Vergangenheit. Sie geht auf in mir und durch mich. Ich bin eure Zukunft.“
Den Menschen gefiel, was sie hörten – und sie gaben dem Mann, was er begehrte.
So ergab es sich, dass die Fußballabteilung des SSV Markranstädt aufging ganz in der Tradition seiner vielen Vorgänger, deren Ursprung bei den FC Sportfreunde Makranstädt lag, denen gelang vor rund 100 Jahren der Aufstieg in den Verband Mitteldeutscher Ballspiel-Vereine, in den RasenBallsport Leipzig.
Das war 2009 – und der Lohn war reichlich, denn der Mann hielt Wort. Schon ein Jahr später gab er ihnen alles zurück, was er nicht mehr brauchte. Die Freude über die Rückkehr der verloren geglaubten Adoptivsöhne war groß. Sie kamen nicht nur als RB Leipzig II, III und IV zurück, sondern auch allesamt als Aufsteiger in ihren jeweiligen Ligen. Sofort wurden sie wieder in die SSV-Familie als 1., 2. und 3. Mannschaft aufgenommen. Womit? Mit Erfolg, denn die neue 1. Mannschaft wurde nach ihrem Aufstieg 2010 in die sechstklassige Landesliga Sachsen in der Saison 2011/12 sächsischer Landesmeister.
Aktuell spielt sie in der 5. Liga, sprich: Oberliga Süd des Nordostdeutschen Fußballverbands (NOFV) – und liegt dort zum Ende der Hinrunde auf Platz 2 – von unten. Das Ende ist also nah. Aber: Die Bundesliga auch, denn für die 1. Mannschaft des SSV Markranstädt sind es keine zwanzig Kilometer bis zur 1. Mannschaft, die nicht zurückkehrte und die ihren eigenen Weg ging, der sie im Sommer des letzten Jahres endlich dorthin führte – in die Bundesliga – und darin in ihrer Premierensaison auf einen viel beachteten Platz 2 – von oben!
Noch nie hat eine Mannschaft so überrascht, noch nie zeigte eine Mannschaft einen solchen Tempofußball, noch nie war eine neue, junge Mannschaft in ihrer Premierensaison erfolgreicher.
Noch nie?
Falsch! Da gab es einen anderen Verein, ebenfalls ein Dorfverein, der eine noch größere Revolution war, der es in seiner ersten Saison sogar zum Herbstmeister brachte: unsere TSG.
Doch das war vor einer langen, langen Zeit. Da gab es zwar schon Leipzig, aber RB war nur dem Fußballfan bekannt, der sich auch für Chemie interessierte. Es ist das Elementsymbol von Rubidium, einem weichen, silbrigweiß glänzenden Metall, das sich spontan bei Luftzutritt entzündet.
Nicht unwahrscheinlich, dass auch der Erfolg unseres Dorfvereins den Mann entzündete und ihn motivierte, sich von südlich des Landes in dessen Osten und dort dann seine Schatulle aufzumachen.
Dafür spricht, dass er sich auch reichlich aus dem Fundus derer bediente, die unsere TSG hervorbrachte, um ein Wesen zu schaffen, wie es der deutsche Fußball noch nie gesehen und gefürchtet hat. Den Köpfen Rangnick und Thanner folgten zum Teil auf Umwegen Beine wie Compper, Selke, Kaiser.
Dazu haben sie sich eine breite Brust erspielt. Wir aber auch, weshalb es für uns keinen Grund gab, uns vor ihnen zu fürchten. Die Ursache für unsere Brustbreite war natürlich die Hinrunde, die wir niederlagenfrei beendeten, während die Gastgeber zwei Spiele verloren, unter anderem gegen den damals Letzten. Außerdem gewannen wir das Hinspiel nur deshalb nicht, weil uns in den Schlussminuten etwas die Puste ausging. Wir aber wurden seitdem insgesamt besser.
Dieses Wesen, was sich selbst nun als „Die Bullen“ bezeichnet, aber auch. Obgleich ein Herz ihm immer noch fehlt, hat es sich tierisch weiterentwickelt. Inzwischen hat es, was nur auf Hasenhüttl hört, Pferdelungen – und nicht zuletzt ihretwegen unsere Serie beendet. Aber auch seine. Das war, Irrtum des Schreiberlings vorbehalten, der erste Sieg einer Mannschaft des RB gegen eine Mannschaft der TSG – und verdient.
Über die gesamten fast 96 Minuten gesehen waren die Leipziger die bessere Mannschaft. Schon in der ersten Halbzeit hatten sie nicht nur optisch mehr vom Spiel, sie hatten auch eine wesentlich bessere Passquote, sie waren schneller und vor allem präziser in ihren Zuspielen, sie waren gefährlicher, hatten die wesentlich besseren Chancen. Aber eine miese Verwertung derselben.
Gewonnen haben sie aber letztlich aufgrund von Glück, denn, auch wenn es unlogisch klingt: Wir waren nicht wirklich schlechter. Unsere Mannschaft schien gut vorbereitet in das Duell gegen die Leipziger gegangen zu sein. Der Plan an sich stimmte, nur die Präzision in den Zuspielen halt nicht. Naja, bis auf einmal: Tor! Für die TSG!
Nachdem die Leipziger schon ein, zwei Großchancen hatten und unsere Defensive es gerade mit Müh’ und Not gelungen war, eine Spielsituation nach einer Ecke zu einer weiteren Ecke zu klären, fiel unser Führungstreffer aus dem Nichts, genauer: nichts anderem als einem fast schon märchenhaften Konter im Anschluss an eben jenen Eckball.
In etwas mehr als zehn Sekunden und ähnlichen wenigen perfekten getimten Diagonalpässen erzielte Amiri das 1:0. Bewundernswert war dabei neben der Genauigkeit der Zuspiele auch die der Laufwege sowie vor allem der letzte Pass von Kramaric, der selbst schon in einer guten Einschussposition war, aber den Ball noch einmal quer passte. Da passte einfach alles.
Es war leider das einzige Mal.
Bei einem Ballbesitz von nur 39% ist eine Fehlpassquote von 34% natürlich kontraproduktiv, um nicht zu sagen: verheerend. Dass die offizielle Spielstatistik eine Zweikampfquote von immerhin 48% aufweist, sieht gut aus, auch wenn es gefühlt weit weniger waren, denn die Gastgeber gewannen gewiss nahezu 100% aller Stocherbälle, was wiederum ein deutliches Indiz für ihren Einsatz war.
Fast das gesamte Spiel über und fast über das gesamte Spielfeld verteilt, sah sich ein ballführender Spieler der TSG, zwei, wenn nicht an die zehn Gegenspielern gegenüber, die sich stets mit großem Engagement auf Ball und Gegner stürzten.
Doch trotz des Drucks verloren unsere Spieler zwar nur selten die Kontrolle über die jeweiligen Situationen – oder die Beherrschung trotz aller Nickligkeiten sowie der zwar geahndeten, aber nicht verwarnten taktischen Fouls. Doch „selten“ ist gegen einen solchen Gegner zu oft – und so gelang den Gastgebern der Ausgleich aus einer Situation heraus, in der unsere Defensive nichts weiter hätte tun müssen, als den Ball wegzudreschen. Tat sie nicht, die Bullen mit den Pferdelungen stürzten sich auf Kevin Vogt, kamen an den Ball – und zum Ausgleich.
Wenige Minuten später war es Oliver Baumann, der sich ebenfalls auf den Ball, aber halt auch auf Kevin Vogt stürzte – und so unbeabsichtigt für die eigentlich spielentscheidende Szene sorgte. Nach minutenlanger Behandlung konnte Vogt zwar noch weiterspielen, aber eben nur bis zur Halbzeit. Für ihn kam Schär – und der tat sich schwer.
Man hätte dem Schweizer wirklich gegönnt, dass er es all seinen Kritikern beweist, derer es im Kraichgau nicht wenige gibt, aber alles, was er bewies, war, warum er so selten spielt – und wie wichtig Vogt für unsere Defensive ist, wobei sein Ausfall diesmal gar nicht so eklatant zu Tage trat wie ehedem gegen den HSV, was wiederum doch für die Mannschaft spricht, dass sie einen solchen Ausfall gegen einen solchen, weitaus stärkeren Gegner, weitaus besser kompensiert.
Die Gäste wussten natürlich um die Schwachstelle im neuen Abwehrverbund – wie auch wir, weshalb das Bemühen auf beiden Seiten zunahm, den Ball bullenseitig vor unseren Strafraum zu bringen bzw. aus unserer Sicht weg von ihm.
Doch Entlastungen waren rar. Unsere Stürmer kamen so gut wie nie an den Ball bzw. der Ball nicht bei ihnen an, obwohl sie sich wahrlich mühten und ackerten und – Rot für Wagner.
Natürlich hätte der Schiedsrichter auch bei den Regelverstößen, die seitens der Gastgeber ausschließlich und gezielt zur Unterbrechung des Spielaufbaus unserer Mannschaft eingesetzt wurden, ähnlich konsequent handeln können und sollen, aber er tat’s nicht, hier konnte er nicht anders. Wagner traf mit offener Sohle von hinten das Wadenbein seines Gegenspielers. Man muss sehen, ob es das DFB-Sportgericht als „grobes Foulspiel“ wertet, womit Wagner mindestens drei Spiele gesperrt sein dürfte, oder richtig einschätzt, nämlich als „bleed gloffe“, denn der Gegenspieler war einfach viel schneller an der Stelle, an die Wagner seinen Körper reinstellen wollte.
Noch eine halbe Stunde zu spielen, in Unterzahl – und was macht Nagelsmann gegen einen laufstarken, spielfreudigen und jetzt noch motivierteren Gegner? Das Richtige.
Er wechselt Kramaric für einen laufstarken, spielfreudigen und gewiss jetzt noch motivierteren Uth aus. Danach kam auch noch Szalai für Amiri, aber da hatten die Gastgeber das Spiel bereits gedreht. Nicht unverdient, aber dennoch glücklich. Ihr erstes Fernschusstor in dieser Saison wäre keines geworden, hätte Schär (Man muss schon voller Mitleid die traurige Frage stellen: Wer sonst?) nicht das Riesenpech gehabt, den Ball nicht nur zwischen die Beine gedroschen bekommen zu haben, sondern ihn dabei auch noch gerade so viel/wenig abzufälschen, dass Baumann nicht mehr an ihn rankommt, er aber auch nicht am Tor vorbeischrammt. So landete er im Netz. 2:1 – und dabei blieb es, weil es uns auch im Anschluss ebenso wenig gelang, Chancen zu kreieren, wie den Gastgebern, die ihren zum Teil besten zu verwerten.
Dabei hat es nicht am Willen auf und außerhalb des Platzes gefehlt, das Spiel noch zu drehen. Nagelsmann überreichte Uth sogar ein Stück Papier, das weniger einem Zettel als einem Plakat glich, aber es hat alles nicht geholfen. Verloren. Wozu? Zu Recht.
Das sagen wir wahrlich ganz ohne Grimm – und das ist auch gar nicht schlimm, denn erstens hat die Mannschaft gut gegengehalten und zweitens Moral bewiesen, auch wenn sie nun in dieser Saison zum ersten Mal, aber bestimmt nicht zum letzten Mal verloren hat.
Das ist auch, wenn man es etwas metaphysischer betrachtet, gut so, denn man sollte, weil es einen Demut und Bescheidenheit lehrt und Anreize auf Neues schafft, im Leben sowieso immer mal wieder was verlieren.
Aber nie die Hoffnung.
Und – auch wenn man es immer will –, man muss nicht immer gewinnen.
Aber glauben.
Daran, dass Dinge (wieder) gut oder besser werden.
Dass man seine Ziele trotz Rückschlägen erreichen kann.
An sich.
Und an den nächsten Sieg der Mannschaft.
Nächste Chance: im 1. Heimspiel der Saison.
Nächsten Samstag gegen Mainz.
Wir tun das.
Und wir freuen uns drauf. Schließlich war das Hinspiel vielleicht das Spiel der Saison, in dem die Moral der Mannschaft geboren wurde, als sie, wenn auch in Überzahl, aus einem 1:4 noch ein 4:4 machte. Natürlich: Auch das war einmal – und niemand weiß heute, wie es ausgehen wird. Ganz im Gegensatz zu einem Märchen. Aber so eines wollten wir eh nicht schreiben, sondern unsere ganz eigene #TSGeschichte. – Dazu haben wir 2017 noch viel, sehr viel, über 1440 Minuten Zeit. Erst dann ist diese Saison zu
Ende.
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Kompliment, ich habe selten so einen gehaltvollen und tiefsinnigen Kommentar gelesen.
Und bis auf das fehlende Herz stimme ich Euch auch zu. Denn ich bin ein Stück dieses Herzens – ich komme aus dem Fußball-Osten, wohne bei Leipzig, und habe immer den regionalen Fußball beobachtet. Aber ich ging nie hin solange Mißwirtschaft und Haß rivalisierender Vereine dominierten, weil es einfach nur peinlich war was mit Lok -> VfB -> Lok und Chemie -> Sachsen -> Chemie passierte. Am Schlimmsten aber: Menschen, die sich Fans von Traditionsvereinen nennen, aber kaum echte Werte oder gesunden Menschenverstand haben.
Seit der reiche Mann kam (oder der kluge Investor, könnte man ihn auch nennen), freue ich mich über schöne Spiele, sich entwickelnde Strukturen und Kulturen. Euch alles Gute – und viel Erfolg demnächst im europäischen Fussball.
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