1899 Hoffenheim vs. SC Freiburg
Sturm und Drang
Kein epochales Spiel. Kein Drama. Ein Sieg der Vernunft.
Alles hat so seine Moden – nicht nur die Mode. Auch in der Philosophie, der Musik, der Malerei und der Literatur gibt es stilprägende Phasen. Doch im Gegensatz zur Mode sind die Zeiträume nicht nur auf wenige Jahre, ggfs. Monate beschränkt, sondern ziehen sich über Jahrzehnte hinweg.
Die meisten Epochen sind jedem zumindest vom Namen her bekannt. Waren sie anfänglich (so ab ca. 500 n. Chr.) namentlich eher allgemein gehalten (Früh-, Hoch- und Spätmittelalter), wurden sie ab ca. 1500 n. Chr. „gelabelt“:
Gotik; Humanismus, Renaissance, Reformation; Barock, Rokoko; Aufklärung; Sturm und Drang; Klassik; Romantik; Biedermeier; Realismus; Impressionismus, Naturalismus; Pointilismus, Jugendstil; Kubismus, Expressionismus, Avantgarde, Dadaismus, Surrealismus; Neue Sachlichkeit, Pop-Art …
Diese Bezeichnungen gelten zum Teil für alle die obengenannten Disziplinen, teilweise nur für einzelne – und auch nie ausschließlich. Nicht alle Werke zu der und der Zeit waren alle typisch X, Y oder Z, aber eben die meisten. So gesehen sind diese Bezeichnungen nichts weiter als Hilfsmittel, Werke in einen zeitlichen Rahmen und ein kulturgeschichtliches Geschehen einzuordnen.
Es wäre uns eine große Freude, eine solche Einteilung auch im Fußball vorzunehmen. Doch da Fußball im Gegensatz zur Kunst nur eine, wenngleich die schönste der Welt, Nebensache ist – wenn man es eben in größeren (Zeit-)Dimensionen betrachtet und das auch im Hinblick auf das Leben aller Menschen – ist das so nicht möglich. Dennoch gab es auch hier stilprägende Varianten, deren Nomenklatur sich aber null an die der Kulturepochen anpasst: „kick & rush“, die Ära des Libero, „ballorientierte Deckung“, „kontrollierte Offensive“, „Tiki-Taka“.
Andersherum halten diese Termini immer wieder Einzug in den modernen Fußball. Trainer und Spieler werden als „Reformatoren“ bezeichnet (Cruyff, Beckenbauer, Guardiola, Sacchi), Journalisten und Fans, die die Gesetze des Kapitalismus im Fußball gerne außer Kraft sähen, als „Romantiker“, ergebnisorientierte Spielweisen werden gerne dem „Biedermeier“ zugeordnet und die Wortspielfraktion greift gerade bei Mannschaften, in denen kaum ein Spieler älter als 23, 24 Jahre ist, zum „Jugendstil“ oder, wenn sie es gar nicht einordnen kann, zur „Avantgarde“.
Am häufigsten aber dürfte die Epoche des „Sturm und Drang“ bei der intellektualisierten Fußballberichterstattung Verwendung finden – was aber weniger an der Epoche selbst liegen dürfte als eben der Möglichkeit der 1:1-Übertragung der Begrifflichkeiten auf das Fußballspiel.
Das Spiel unserer TSG gegen den SC Freiburg ist hierfür ein perfektes Beispiel. „Wie,“ fragst du, geneigte/r Leser/in verständlicherweise, „das soll Sturm und Drang gewesen sein? Das war, wenn schon, die Neue Sachlichkeit!“
Wahrlich, das Spiel selbst war nicht gerade durch zahlreiche und stete Angriffsaktionen geprägt, aber kennzeichnend für die sehr kurze Epoche, die es übrigens nur in der deutschen Literatur so gab (1765-1785), war, dass sie hauptsächlich von sehr jungen Autoren getragen wurde, von denen keiner älter als 30 war.
Sie hingen sehr den Ideen der Aufklärung an. Der Verstand war die bestimmende Größe der Zeit. Das (literarische) Werk sollte den (Leser oder Theater-)Zuschauer moralisch bilden, ihn erhellen und seine Vernunft wecken. (Und das passt doch schon alles sehr gut zu der Partie, um die es hier gehen soll – und auch noch wird … nur Geduld. 🙂 )
Wegen dieser hehren Ziele wurde diese Strömung auch „Genieperiode“ genannt. Aber durchgesetzt hat sich ca. 1820 schließlich „Sturm und Drang“, wohl auch, weil es zu der Zeit große weltpolitische Ereignisse gab, die die Welt, in der wir heute leben, maßgeblich prägten (amerikanische Unabhängigkeit (4. Juli 1776), französische Revolution (1789)), wobei es kein frei erfundener Name war, sondern der Titel einer 1777 erschienenen Komödie von Friedrich Maximilian Klinger, die eigentlich hätte „Wirrwarr“ heißen sollen – und der Begriff hätte doch weitaus besser gepasst, zumindest zur ersten Halbzeit, in der es wenig klare Strukturen und Ideen zu erkennen gab insbesondere in Sachen Sturm und Drang.
Weitaus mehr ging es um Defensive und Kontrolle, was das Spiel wenig ansehnlich machte, aber ein wunderbares Beispiel ist für das Ziel der Epoche: die Erhellung sowie den beim Zuschauer zu weckenden Verstand.
In Anlehnung an „sapere aude“ (eigentlich „Wage es, weise zu sein.“), aber zu der Zeit und auch heute noch vor allem verstanden in der Interpretation Immanuel Kants, der es 1784 zum Leitspruch der Aufklärung erklärte (im Sinne von: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“), könnte man aus dieser Halbzeit durchaus ein „puta et labora!“ („glaube und arbeite“) ableiten (also NICHT „ora et labora“ („bete und arbeite“), da es ja um Aufklärung, also die Nutzung des eigenen Verstandes geht („putare“ = „glauben“ (im Sinne von „eine Meinung haben“)), so dass man es (seeehr) frei interpretieren kann als „Vertraue auf dein Glück als Tüchtiger!“
Die Mannschaft tat es – und wurde belohnt. Das stete Räumeengmachen und Attackieren des Ballführenden zeigte plötzlich Wirkung. Ein viel zu schwach gespielter Rückpass eines Freiburger Abwehrspielers zum eigenen Torwart wurde von Kramaric erzwungen und von Wagner erlaufen. Der sonst eher als Heißsporn geltende Mittelstürmer bewahrte dann auch kühlen Kopf. Statt eines vorschnellen Abschlusses umspielte der noch den Gästekeeper und schob den Ball dann aus spitzem Winkel über die Linie.
Diese Coolness in ähnlich aussichtsreichen Szenen ließ unsere TSG dann in der zweiten Halbzeit leider vermissen. Beste Chancen wurden vergeben und so sehr sich in der ersten Halbzeit der Spruch von den sofort bestraften Fehlern bewahrheitete, legitimierte sich der von der Rache der nicht genutzten Chancen, so dass der Ball ähnlich plötzlich und an sich grundlos im Netz landete.
Es war die einzige Großchance, die unsere ansonsten überzeugend agierende Defensive zuließ – und die wurde prompt von den Gästen genutzt. Zudem ließen wir aber auch in den Minuten zuvor die Gäste immer besser ins Spiel kommen. Es war wohl ein Moment der Irritation, alldieweil die Einwechslungen der Gäste allesamt offensiv waren, so dass man vielleicht erst einmal abwarten wollte, was deren neuer Plan war – und diese Momente der Passivität wurden sofort ausgenutzt (auch ein erhellendes Moment), aber glücklicherweise gleich wieder abgelegt und der richtige Rückschluss gezogen: Je mehr offensive Spieler die Südbadener auf dem Platz haben, desto mehr Platz haben die offensiven Spieler der Nordbadener.
Unsere Mannschaft stand wieder höher und spielte mehr in die Tiefe – und auch das wurde belohnt. Diplomatisch wie Julian Nagelsmann ist, versuchte er in der anschließenden Pressekonferenz die Emotionen gerade beim Gästetrainer nicht zusätzlich zu schüren und sprach sowohl bei der Szene, in der uns ein Strafstoß zugesprochen, der von Kramaric im Panenka-Style verwandelt wurde, als auch von dem anschließenden Zweikampf in unserem Strafraum, der ungeahndet blieb, jeweils von einem Kann-Elfmeter, auch wenn er es persönlich ebenso gesehen haben dürfte wie mindestens 25.000 Zuschauer im Stadion und eben der Schiedsrichter, zu ungestüm und bewusst gegen den Gegenspieler war der Einsatz des Freiburger Verteidigers, zu gewünscht der Fall des Freiburger Angreifers. Zudem ließ er wohlweislich die beiden ebenfalls mindestens Kann-Elfmeter (gegen Amiri respektive Kramaric), die Herr Aytekin uns verwehrte, unerwähnt.
So hatte jedenfalls das Spiel am Ende dann doch noch das Feuer und Temperament, das die Baden-Duelle in den letzten Jahren auf dem Rasen immer wieder prägte. Vielleicht waren es die Erinnerungen daran, die unseren Sportdirektor veranlassten, im Vorfeld Freiburg als aggressiv agierende Mannschaft zu bezeichnen. Auch auf der Pressekonferenz vor dem Spiel sprach Julian Nagelsmann vor einer Mannschaft, die sehr aggressiv agiere.
Eigentlich ein ganz normaler Duktus – und irgendwie ja auch ein Lob –, aber im Rückblick sahen die Freiburger Offiziellen hierin eine subtile, im Verborgenen stattfindende Einflussnahme, sprachen von „Machenschaften“, was ein schönes, unklares Wort ist, weshalb man es ihrerseits auch dabei beließ und nicht das hierfür heutzutage sonst übliche Synonym zu verwenden: Intrige.
Als Wortfetischisten hätten wir uns natürlich gefreut, wenn der Deutsch-, Geschichts- und Sportlehrer Streich den ihm gewiss bekannten und im Sturm und Drang üblichen Begriff benutzt hätte, der heutzutage nur noch im Zusammenhang mit einem Theaterstück, das 1784 uraufgeführt wurde, des größten deutschen Dichters aus der Sturm-und-Drang-Zeit, Friedrich Schiller, Verwendung findet – nein, weder „Glocke“ noch „Räuber“, noch „Wallenstein“, sondern: „Kabale“.
Und ohne die bleibt nur Liebe. Auch wenn das Spiel wenig Anlass zur Verzückung bot, jubiliert das Herz ob der Fakten. Immer noch ungeschlagen. Aktuell auf Platz 6. So gut wie seit Jahren nicht mehr. In Anbetracht des Programms der nächsten Wochen wird es sicherlich nicht einfach, diesen zu halten oder sich noch weiter zu verbessern. Aber es ist nicht unmöglich. Und sollte er sich nicht halten lassen, fänden wir auch Trost im Sturm und Drang, bei Friedrich Schiller, in Kabale und Liebe:
Veränderung nur ist das Salz des Vergnügens.
P.S.: A propos Sturm und Drang und Mode: Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ wird ebenfalls dieser Epoche zugeordnet. Mit seinem blauen Frack und gelber Weste wurde sein Protagonist zur Stilikone. Früher nannte man das in den entsprechenden Kreisen „Werther-Mode“, bei uns erinnerte daran das Auswärtstrikot.
P.P.S.: Und weil wir alle so beglückt sind, sollten wir in die Vertonung Schillers weltweit bekannten Gedichts („Ode an die Freude“) einstimmen … (s. obiges Video)
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